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Figuren im Transit

Sich selbst bezeichnet er als "Kurzgeschichtenautor im Mantel des Romanciers". Peter Henning schreibt in der Tradition der amerikanischen Short Story, sein neues Buch "Leichtes Beben" ist darüber hinaus vom episodenhaften Ansatz des verstorbenen Meisterregisseurs Robert Altman geprägt.

Von Dina Netz | 30.11.2011
    Peter Henning wählt gern Naturphänomene als Metapher für das Erleben seiner Figuren. In seinem Roman "Die Ängstlichen" ging ein Unwetter nieder. In "Leichtes Beben" werden Freiburg und Umgebung, wo das Buch spielt, von einem Erdbeben erschüttert. Henning zelebriert die Gleichsetzung des Erdbebens mit den Stößen, denen er seine Figuren aussetzt.

    "Es sind Geschichten, die vor, während und nach einem Erdbeben spielen. Und es sind die inneren Momente, die ich versucht habe festzuhalten, das Durchgerütteltwerden der Figuren, die inneren kleinen Beben habe ich versucht zu beschreiben, dass Leute aus der Spur geraten, dass Leute zum Umdenken gezwungen werden, plötzlich jäh innehalten müssen, aus dem Strom ihres Lebens herausgespült werden und manchmal sogar zu Neuwerdungen kommen. Also es sind kleine Revisionen und jähe Momente des Innehaltens."

    Ein als Maler gescheiterter Mann besucht seinen Vater, der ein erfolgreicher Maler war, in der Psychiatrie und muss einsehen, dass er aus dem Schatten des Vaters nie herausgetreten ist. Und tut es endlich.

    Ein anderer Mann stattet seiner toten Mutter einen Abschiedsbesuch ab und schafft es erst am Totenbett, ihr zu sagen, dass er den Laden des Vaters verkauft hat. Er berührt mit der Hand die Stirn der Toten und wird plötzlich selbst von Todesangst gepackt.

    Ein Ehepaar bleibt auf dem Rückweg vom Scheidungsanwalt - Erdbeben-bedingt - im Aufzug stecken und kommt sich so gezwungenermaßen wieder näher. Der Mann ist übrigens der Sohn aus der ersten Geschichte.

    Bei Peter Hennings Figuren löst sich durch das innere und äußere Beben eine Starre, wie auch bei dem Schriftsteller mit der Schreibblockade, der endlich über den Autounfall seiner Eltern schreiben kann.

    Eine der erschütterndsten Geschichte ist die eines Mannes, der seinen Sohn bei der Geburt in ein Kinderheim gegeben hat und acht Jahre später in einer Schnapslaune beschließt, ihn zu besuchen. Auf dem Weg dorthin wird ihm aber klar, dass der Junge Fragen stellen wird. Und so zögert er die Ankunft hinaus, bis er schließlich im Suff überhaupt nicht mehr ankommt. Der Mann hat Angst vor der Verantwortung und vor der Wahrheit, dass er das Kind im Stich gelassen hat.

    "Angst ist ein Grundgefühl. Ich glaube in der Tat, dass es wie so ein Subtext ist, der durch diese Geschichten geht, Angst vor Versagen, vor Vereinsamung, vor Enttäuschung. Es ist ein mir sehr vertrautes Gefühl, und ich glaube, dass ich das diesen Figuren untergeschoben habe."

    Ein anderer Mann fährt einen Jungen an, hat aber keinen Führerschein und kurvt mit dem Jungen deshalb stundenlang durch die Gegend, nimmt sogar noch eine Anhalterin mit, geht mit ihr was trinken - bis er schließlich doch ins Krankenhaus fährt. Aber das erfährt der Leser erst am Schluss in einer anderen Geschichte; Peter Henning lässt die Enden ganz in der Tradition der Kurzgeschichte lange oder ganz offen.

    " Beim Schreiben rekurrierte ich auf das Gesetz der Kurzgeschichte. Die Kurzgeschichte beginnt im besten Falle dann, wenn sie auf dem Papier zu Ende ist und im Kopf des Lesers anspringt. Ich habe bewusst diese offenen Enden gewählt innerhalb der Geschichten. Natürlich sind die untereinander verlinkt und hängen auch partiell zusammen. Aber ich hab die Geschichten nie auf eine Pointe hingeschrieben. Ich glaube, es gibt eine große Lebenspointe, das ist der Tod. Aber letztendlich bleibt alles offen in unseren Wegen, während der Dinge, die wir tun und machen und hoffen."

    Ein Mann in einer anderen Geschichte reist in die Vergangenheit, nämlich zum Treffen des Abiturjahrgangs nach 20 Jahren. Der Zug hat einen Erdbeben-bedingten Unfall, und der Mann glaubt, in einer Mitreisenden eine frühere Lehrerin wiederzuerkennen. Auch die Frau erkennt jemanden in ihm wieder - beide täuschen sich. Viele Figuren in Peter Hennings Buch erleben eine Konfrontation mit jemandem aus ihrer Vergangenheit, der ihnen früher wichtig war, den sie aus den Augen verloren haben und den sie jetzt anders wiedersehen.

    "Erinnerung ist für mich extrem wichtig. Wenn man uns unsere Erinnerungen nimmt oder abspricht, spricht man uns unsere Existenz ab. Wir definieren uns ja in vielen Dingen über die Erinnerung. Die ist sozusagen das Reservoir, aus dem wir unsere oft Gefühle nehmen. Wie haben wir uns gefühlt, wie war die Situation? Es geht in der Tat um Erinnerung in diesen Geschichten, was Erinnerung auslösen kann. Wenn ich an den Mann denke, der einer Nachtklub-Tänzerin gegenübersteht und plötzlich feststellen muss: Sie war die Frau, die ihm immer Liebesbriefe geschickt hat. Auch da holt einen sozusagen die Erinnerung wieder ein in Form der Realität. Und plötzlich muss man sich den Erinnerungen, die man vielleicht ganz anders abgespeichert hatte, auf eine ganz neue Weise stellen. Das ist für mich schon sehr wichtig gewesen in den Geschichten."

    Peter Hennings Figuren sind Alltagsmenschen, die als Buchvertreter, Dekorateur, Kaufhausdetektiv ein durchschnittliches Leben führen, aber das Hoffen und Wünschen nicht ganz aufgegeben haben. Oder sie sind, umgekehrt formuliert, einfach unzufrieden geblieben. Einer zum Beispiel

    "träumt von einer Liebe, die größer war als sein Alltag".

    Ihm und vielen anderen Figuren fehlt aber der Mut, etwas für die Erfüllung ihrer Träume zu tun. Viele Figuren wirken unsouverän, über einen heißt es:

    "Er war stets ausgewichen, statt sich zu stellen."

    Für wen würde dieser Satz nicht gelten? Als Leser kann man sich sofort mit Peter Hennings Figuren identifizieren - und distanziert sich gleich wieder, weil man sich in ihnen und ihren Schwächen allzu genau wiedererkennt. Ein Blick in den Spiegel ist eben fast immer mit einem zumindest kleinen Erschrecken verbunden.

    "Es sind Figuren im Transit, es sind Figuren, die ständig von A nach B unterwegs sind, im süddeutschen Raum. Es ist wie der Blick auf eine Bühne, auf der wir Leute kommen und gehen sehen. Es ist das Kammerspielartige, dass immer die kleine Situation ausgeleuchtet wird. Und auf dieser Bühne tummeln sich eben eine ganze Reihe von Figuren, die wir kurz sehen, die wieder abtreten, andere treten auf. So empfinde ich oft auch das Leben: Ein Kommen und Gehen, ein kurzes Verweilen, und dann geht es eben weiter."

    Peter Henning, der sich selbst als "Kurzgeschichtenautor im Mantel des Romanciers" bezeichnet, sieht sich in der Tradition der amerikanischen Short Story - und er beherrscht sie. Die Kapitelanfänge werfen den Leser mit wenigen Sätzen in eine Situation oder bringen ihm eine Figur nahe:

    "William Spencer war neunundfünfzig Jahre alt, dürr und knochig, und sein helles Haar wurde licht und grau. Seine Kindheit hatte er in Enfield, einem Vorort Londons, verbracht und war nach der Schule für einige Jahre ins Ausland gegangen, nach Australien und Nigeria. Nun war er nach Zürich gekommen, um mit einem Anwalt die Formalitäten für die Scheidung von seiner Frau Esther, einer gebürtigen Schweizerin, zu erörtern."

    Oder, anderer Kapitelanfang:

    "Als der neununddreißigjährige Johan Kapaun mit diesem zweiundzwanzigjährigen Mädchen namens Jill im Bett lag, erzählte er die ganze Geschichte. Er hatte plötzlich Lust, darüber zu reden."

    Im Handumdrehen, in ganz wenigen Sätzen entwirft Peter Henning eine klare Ausgangssituation. Danach kann er seine Hauptfigur dem "leichten Beben" aussetzen - wobei es sich meistens eher um ein schweres Beben handelt.

    Das Konstruktionsprinzip von "Leichtes Beben" ist kompliziert: Das Buch firmiert als "Roman", der sich aus 31 Geschichten zusammensetzt, die auch einzeln bestehen könnten. Aber sie sind alle miteinander verwoben durch Überschneidungen von Figuren oder Begebenheiten. Peter Henning hat an "Short Cuts" gedacht, den Episodenfilm von Robert Altman nach Geschichten von Raymond Carver. Aber auch ans normale Leben: Manche Menschen trifft man wieder, manchen begegnet man nur flüchtig, und andere verliert man aus den Augen. Dieses elegant komponierte und präzise formulierte Buch jedenfalls wird man so schnell nicht vergessen.


    Peter Henning: "Leichtes Beben". Roman
    Aufbau Verlag, 332 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-351-03356-9