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Figurentheater der Avantgarde

Das Wiener Kabinetttheater ist derzeit auf Tournee, zum Teil auch in Deutschland. Mitte Oktober, zum allgemeinen Saisonbeginn präsentieren es in Wien sein neues Programm. Im Sommer wurde das Jubiläumsprogramm zum 15-jährigen Bestehen mit 15 Mini-Dramen aus dem Repertoire begangen - ein Programm quer durch die Szene der Winz-Stücke, die im Figurentheater ihr kongeniales Medium finden.

Von Beatrix Novy |
    Arthur Schopenhauer: Prolog anno 33

    "- Wissen Sie schon das Neueste?
    - Nein, was ist passiert?
    - Die Welt ist erlöst!
    - Was Sie sagen!
    - Ja, der liebe Gott hat Menschengestalt angenommen und sich in Jerusalem hinrichten lassen; dadurch ist nun die Welt erlöst und der Teufel geprellt.
    - Ei, das ist ja ganz scharmant! "

    (leider nicht in dieser Spielzeit aufgeführt)

    " Mein Herr, Sie haben den falschen Prolog...hier spielt man heute Minidramen! "

    Die Kunst des ganz Kleinen trifft sich günstig mit den Wahrnehmungsgewohnheiten der Mediengesellschaft: Minidramen sind, der Name sagt’s, kurz und knapp. Sie sind auch unterhaltend, aber der Test mit dem Konsum einer vergleichbaren Menge von MTV-Videoclips zeigt: Minidramen des Wiener Kabinetttheater werden nicht so schnell verdaut. Solche bildgewordenen Metaphern wie die zwei sich unterhaltenden Handschuhe auf der Wäscheleine werden vom Gedächtnis gern gespeichert

    " So wird ich morgen Nadeln kaufen...und dann wird ich ihn verlassen. Es muss schwer sein. Ja, sehr. "

    Die Handschuhe auf der Wäscheleine, zart bewegt im Rhythmus ihrer Worte und Empfindungen - von wem, weiß man nicht -, sind Allegorien für Anna und Rosa, zwei frustrierte Hausfrauen, erfunden von Konrad Bayer, dem früh verstorbenen Mitglied der berühmt-verrückten "Wiener Gruppe" in den 50er Jahren. Auch Gerhard Rühm gehörte dazu, auch der ist fester Literat des Kabinetttheaters in der Porzellangasse 9. Aber da haben sie nicht angefangen, die Stabpuppen-, Finger-, Scherenschnitt-, Marionetten- und Ganzkörperspieler dieses besonderen Figurentheaters. Angefangen haben sie in Graz.

    "Eines Tages dachten wir: Es wäre schön Puppentheater zu machen. Julia Reichert spielte mit Puppen, keine Spielfiguren, sondern Phantasie, also ein onanierender Faun, oder blutspuckender Vampir, wir dachten: warum sollen die nicht mal Theater spielen. "

    Christoph Widauer, gelernter Philosoph, war drei Jahre Leiter des Grazer Festivals Styriarte gewesen, bevor er mit Julia Reichert, gelernter Bibliothekarin, 1989 die Schnapsidee mit den Puppen hatte. Man lud Freunde zu einer kleinen privaten Vorstellung ein

    " Da war der Wolfi Bauer, da war die Olga Neuwirth....und alle sagten: Ja fein, und wann ist die nächste Vorstellung? "

    Und damit es eine nächste Vorstellung geben möge, schrieben die Schriftsteller und komponierten die Komponisten, und ein schon vorhandener Fundus kleiner Stücke wurde ausgegraben

    " Die neugierigen alten Frauen "

    Olga Neuwirth vertont Daniil Charms Schnurre von den neugierigen alten Frauen, dargestellt von Porzellanhenkeltassen. Wolfgang Bauer schrieb die "Schlacht an der Beresina"

    Winterliche Waldszenerie auf der Puppenbühne, es spricht ein Kopf aus Papier im Profil, den Mund bilden zwei Finger des unsichtbaren Spielers, Scherenschnitt-Soldaten tauchen auf sowie ein aufgeklappter Zuschauerraum - das staunende Publikum sieht sich selbst verdoppelt

    Franz Schuberts "Der Tod und das Mädchen" erscheint als Tableau mit Kinderzimmer-Puppe, die von zwei Unterschenkel-Knochen gestreichelt wird. Für Ernst Jandls Stanzen, ein Mini-Ehedrama, kommen zwei Puppen zum Einsatz, die an die lästernden Muppet-Greise erinnern.

    Julia Reichert und Christoph Widauer haben sich seit ihrer ersten Grazer Vorstellung in der Welt des Puppentheaters umgesehen. Sie kennen die Kunstfertigkeit der traditionellen Bühnen v.a. in Osteuropa mit ihrer fundierten Ausbildung, die dem Kleistschen Ideal der anstrengungslosen, unbewussten Grazie nahe kommen.

    " Wenn man sich von dieser Ambition befreit, kann man jeden Text neu anschauen, das ist eine andere Schwierigkeit, für jeden Text eine andere Technik, oder gar keine klassische Puppentheater-Techniken. "

    Das Repertoire des Kabinetttheaters ist das Absurde, Hintergründige, Lachhaft-Tückische: Texte von Ernst Jandl, Friederike Mayröcke, H.C. Artmann, Gerhard Rühm, aber auch Heiner Müller, F.K. Wächter, Franz Grillparzer

    " Franz Grillparzer: Der wilde Jäger. Romantische Oper "

    Die Phantasie darf die Illusion ersetzen: Der Spieler tritt schon mal spielend vor die Bühne, lebensgroß; keine perfekten Scheinwelten kreieren ihre stimmigen Proportionen, und doch geschieht das Wesentliche im Verborgenen, die Tricks dahinter soll man nicht sehen und begreift sie nicht - wie es sich für Puppentheater gehört. So wird der Charme der Phantasie und der kleinen Mittel doch zur Perfektion gebracht.