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Fiktion ist Fiktion ist Fiktion

Welt und Wirklichkeit haben keine absoluten, sondern nur relative Bedeutungen; alles ist Fiktion - so das Dogma der Postmoderne. Eine Bilanz dieser Geistesströmung zog die Konferenz "Geschichte schreiben nach der Postmoderne" an der Universität Stuttgart.

Von Kersten Knipp |
    Der Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure war ein nüchterner Mensch. Dennoch entwickelte er ein Begriffspaar, das die Geisteswissenschaften zu teils sehr bunten Kapriolen brachte: Signifiant und Signifié - Bezeichnendes und Bezeichnetes.

    Wir Menschen hantieren mit Zeichen - und entwickeln so unsere eigene, ganz subjektive Welt, die mit der äußeren Welt bestenfalls locker verbunden ist. Diese auch politisch frohe Botschaft - denn mit ihr ließen sich ja alle etablierten Ordnungen infrage stellen - enthielt allerdings auch enormes ästhetisches Verführungspotenzial: Signifiant und Signifié, Konstruktion und Dekonstruktion, Kontingenz und Ambivalenz, Wortspiel und Modus der Beschreibung - wunderbare Begriffe standen auf einmal im Raum, allesamt geeignet, die Wirklichkeit nicht mehr allzu ernst zu nehmen - in zu Teilen überzogener Einseitigkeit, so die Germanistin Sandra Richter, die Organisatorin der Tagung.

    "Die Dekonstruktion hat ja die Wirklichkeit auf das Zeichenhafte reduziert; und dieses Abstrakte ist natürlich befremdlich, wenn man dann den Flüchtling interviewt oder dergleichen tut. Die Dekonstruktion oder die Postmoderne hat so etwas von intellektueller Pubertät. Die ist sehr stark in ihren Thesen und ihren Begriffen. Und da denkt man: Jetzt muss man die aber irgendwie erwachsen werden lassen. Und dieser Prozess ist eben insofern noch nicht abgeschlossen, als dass diese postmodernen Provokationen offensichtlich doch sehr stark waren."

    Die Lust an der Aura der Begriffe mag da mitgespielt haben, die Faszination an einer Sprache, die Großes verhieß. Von "Signifikantenketten" sprach man, vom Fluss der Sprache, der in des Menschen Hirn alle nur denkbaren Weltbilder spüle. Ganz falsch war das nicht, denn tatsächlich kann man sich die Welt ja auch schön reden - oder sie schlimmer finden, als sie ist. Subjektivität und Sprache spielen also eine große Rolle, wenn man von der Wirklichkeit spricht. Und darum, so der Kölner Romanist Andreas Kablitz, lassen sich die postmodernen Theorien auch nicht so einfach von der Hand weisen.

    "Irgendwo ist doch einsehbar, dass die Postulate der Postmoderne sehr weltfremd sind. Sie handeln von der Überflüssigkeit oder jedenfalls der Prekarität von Erzählungen. Es gibt also einen merkwürdigen Zwiespalt zwischen dieser avancierten postmodernen Theorie und unserer Alltagserfahrung. Andererseits ist es nicht einfach, postmoderne Argumente aus der Welt zu schaffen. Und ich glaube, dass aufgrund dieses Zwiespalts zwischen der irgendwo doch erahnten Absurdität, der Folgerungen postmoderner Theoriebildung und der theoretischen Schwierigkeit, die Argumente einfach vom Tisch zu wischen, die Aktualität dieser Theoriebildung noch relativ lange ist."

    Gut möglich auch, dass die Dekonstruktion nicht nur der kulturellen, sondern auch der ökonomischen Situation der Zeit entsprach. Die 60er-, 70er-Jahre: Das waren Zeiten blühenden Wohlstands, der unbekümmerten Fantasie der westlichen Wohlstandsgesellschaften, deren Mitglieder sich über die Konsequenzen ihres Tuns keine allzu ernsten Gedanken machen mussten. Darüber wurde die Postmoderne, die ursprünglich aus den schlimmen Erfahrungen mit den totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts entstand, zu einer spielerischen, bisweilen auch dekadent weltvergessenen Theorie.

    Ganz anders sah es dagegen in anderen Regionen, etwa der arabischen Welt aus. Der politische Druck legte es nahe, große Erzählungen zu schmieden, den Mythos von Gesellschaften, die den Zweifel nicht kennen. Die relativistischen Sprachspiele des Westens wurden wenig beachtet. Man kann beobachten, so der Bonner Islamwissenschaftler Stephen Conermann, ...

    "…dass diese ganze Diskussion, die hier geführt wird und in Amerika geführt wird, dass die in den arabischen Ländern selbst überhaupt nicht angekommen ist. Also das heißt, dass die Geschichtsschreibung, die in den arabischen Ländern oder in den türkischsprachigen, iranischsprachigen oder arabischsprachigen Ländern geschrieben wird, dass die sich immer noch ganz stark an nationalen Linien orientiert, und dass da ein gewisses Diskontinuum, eine Disparität der Diskussionsebenen vorhanden ist. Das heißt also, wir diskutieren über ganz andere Phänomene und ganz andere Dinge, als eben Kollegen aus der arabischen Welt, was eben die Kommunikation untereinander meistens sehr erschwert."

    Wie leicht absolute Bedeutungsansprüche einen totalitären Charakter offenbaren, zeigt sich in den fundamentalistischen Spielarten des Islam. Trotzdem gibt es gute Gründe, trotz des Geredes von der Relativität der Wirklichkeit an den durchaus handfesten Charakter dieser Wirklichkeit zu erinnern. Dass es eine Wirklichkeit jenseits aller Sprache gibt, genau das wollte man während der letzten drei Jahrzehnte in den Geisteswissenschaften kaum mehr wahrhaben.

    Am entschiedensten formulierte das die Literaturwissenschaft, die dank ihres Gegenstands ohnehin ein entspanntes Verhältnis zur Realität haben. Fiktion ist Fiktion ist Fiktion - und alles andere ist nichts, das war das Dogma einer Disziplin, die zwischen einem vielfach ausdeutbaren Gedicht und der übrigen Welt keinen allzu großen Unterschied machen wollte. Tatsächlich, räumt der Kölner Literaturwissenschaftler Andreas Kablitz ein, sei sein Fach gelegentlich zu weit gegangen. Allerdings:

    "Ich glaube, dass die Literaturwissenschaft nach wie vor ein großes analytisches Potenzial hat. Wenn sie eine Sache nicht tut, die sie leider in den letzten 25 Jahren sehr entschieden getan hat; wenn sie sich nicht für all-zuständig hält. Die Textualisierung der ganzen Welt hat ihr ziemlich geschadet, weil sie am Schluss nämlich nichts mehr hatte, was ihr allein gehörte. Und dazu gehört in der radikalsten Form auch die Aufhebung zwischen Wahrheit und Fiktion. Diese etwas hochgemuten Vorstellungen der All-Zuständigkeit für diese Welt, die vermutlich letztlich nur ein Symptom eines schwachen Selbstbewusstseins sind, halte ich gerade für schädlich für ihre eigenen Wirksamkeiten."

    Tatsächlich ist die Literaturtheorie wie kaum eine andere Geisteswissenschaft berufen, den fiktiven Anteil an unseren Weltbildern aufzuzeigen. Ihre Skepsis hat längst auch auf die Theologie übergegriffen - im Westen der Welt. In der arabischen Welt steht die postmoderne Deutung der Religion noch am Anfang. Eine sprachkritische Korandeutung ist noch keine gängige Praxis. Zumindest bislang, betont der Bonner Islamwissenschaftler Stephen Conermann.

    "Auf der anderen Seite - und das halte ich für sehr viel auch produktiver - versucht man zum Beispiel in Berlin - federführend ist da die Frau Neuwirth - in Berlin versucht man einen kritischen Korantext zu erstellen. Und zwar nicht allein mit westlichen Kollegen, sondern Frau Neuwirth hat nun ganz dezidiert ein Team zusammengesucht, in dem es auch eine Reihe von muslimischen Wissenschaftlern gibt. Natürlich gibt es eine starke Opposition gegen diesen Versuch, einen historischen Korantext oder die historische Entstehung des Korantextes wissenschaftlich zu untersuchen. Aber grundsätzlich, glaube ich, wird dieses Projekt an den arabischen Universitäten positiv wahrgenommen."

    Und im Westen? Der Abschied von Dekonstruktion und Postmoderne ist eingeläutet - zumindest von deren allzu überzogenen Varianten. Lässt man die hinter sich, so Sandra Richter, die Organisatorin der Tagung, dann hat man gute Chancen, vielleicht doch noch herauszubekommen, wie wirklich die Wirklichkeit denn nun ist.

    "Also, das ist sicherlich schon so, dass sich in den letzten 15 Jahren sehr, sehr viel entwickelt hat, und dass man jetzt etwas entspannter spricht über die Dekonstruktion und andere Dinge, als vor 15 Jahren, und sich jetzt eher fragt, wo geht es jetzt hin? Da hat sich sicherlich eine Menge entwickelt, und die Postmoderne ist nur noch zunehmend so eine Referenz, die aber eben noch im Raum steht für vieles, was wir als diffus beschrieben haben. Und deshalb ist immer noch eine gewisse Notwendigkeit da, über die Postmoderne zu reflektieren. Man kommt noch nicht ganz weg, aber man ist auf dem Weg."