
Sigrid Fischer: "Boyhood" ist mal wieder ein ungewöhnliches Projekt, Richard Linklater, das ist man von Ihnen ja schon gewohnt. Nach gut zwölf Jahren ist es an die Öffentlichkeit gegangen. Was überwiegt - Trennungsschmerz oder Erleichterung?
Richard Linklater: Wir, die Beteiligten, sind noch dabei, es zu verarbeiten. Es war eine so lange Zeit. Aber es ist toll, es schließlich mit anderen zu teilen. Man macht das ja, um eine Geschichte zu erzählen, deshalb ist es ein gutes Gefühl, wenn die jetzt ihr Publikum findet.
Fischer: Vermutlich haben die Studios nicht gerade Schlange gestanden, um "Boyhood" zu unterstützen, sondern eher von dem Projekt abgeraten, oder?
Linklater: Nein, alle haben gesagt: Das ist eine tolle Idee, aber ich wüsste nicht, wie wir da helfen können. Kurzum, niemand wollte "Boyhood" finanzieren. Bis auf eine Firma, IFC, mit der habe ich schon mal gearbeitet, die mögen mich. Die haben uns jedes Jahr etwas Geld gegeben. Und der Mann, der vor zwölf Jahren grünes Licht für "Boyhood" gab, ist immer noch in der Firma, das ist sehr selten in unserer Branche. Wir hatten also großes Glück, und zwar mit allem, was den Film betrifft.
Linklater: "Der ganze Film basiert auf einem großen Vertrauensvorschuss"
Fischer: War der von vornherein auf zwölf Jahre angelegt oder hat sich das erst ergeben im Laufe der Zeit?
Linklater:: Nein, das stand von vornherein fest. In den USA haben wir ja im Prinzip zwölf Jahre Schulpflicht. Das ist die Zeit hinter Gittern, so habe ich sie jedenfalls empfunden damals. Danach kommt man frei - auch aus dem Elternhaus. Genau diesen Lebensabschnitt wollte ich abbilden.
Fischer: Das Konzept war aber doch ziemlich riskant, es durfte eigentlich niemand abspringen.
Linklater:: Der ganze Film basiert auf einem großen Vertrauensvorschuss, auf dem Glauben an die Zukunft und darauf, dass das Konzept tragen würde, dass die Darsteller Lust haben würden, jedes Jahr weiter zu drehen. Man kann sie ja nicht zwingen, und vertraglich für höchstens sieben Jahre verpflichten. Also wenn Ellar hätte aussteigen wollen, hätte ich nichts machen können. Ich musste schon darauf vertrauen, dass es allen Beteiligten bedeutsam genug sein würde.
Fischer: Und du, Ellar, hast du nicht mal zwischendurch gedacht: Jetzt reicht's mir? Ich habe keine Lust mehr?
Ellar Coltrane: Nein, wir waren ja quasi eine Familie. Und es hat Spaß gemacht, Teil eines künstlerischen Prozesses zu sein. Das habe ich vielleicht nicht gleich am Anfang so gesehen, aber das hat mich auf jeden Fall später davon abgehalten, auszusteigen. Ich mag das Projekt sehr.
Linklater: "In einer Position, in der kein anderer Schauspieler je war"
Fischer: Wie viel Schauspielarbeit war das eigentlich bei Dir, Ellar, vor allem in den ersten Jahren, als du sechs oder sieben warst? Ging es wirklich darum, zu spielen, oder nicht eher darum, einfach du zu sein?
Coltrane: Vielleicht habe ich in den ersten Jahren, bevor ich an den Dialogen mitgearbeitet habe, sogar mehr gespielt als später. Ich weiß es nicht, ist schwer zu sagen, auf jeden Fall war es anfangs weniger natürlich für mich. Später, als ich am Drehbuch mitgeschrieben habe, waren es viel mehr meine eigenen Worte.
Linklater:: Aber auch als du klein warst, haben wir dich schon einbezogen.
Coltrane: Ja, das stimmt.
Linklater: Wir haben die Dialoge angepasst. Aber das ist eine gute Frage. Also ich wusste von Anfang an, dass Ellar und Mason, den er spielt, sich immer mehr vermischen würden und sich alles in Ellars Richtung entwickeln würde.
Fischer: Ellar, wie findest du das denn, womöglich als einziger Mensch auf der Welt dich als Kind und Jugendlichen zwischen 6 und 18 auf der Leinwand verewigt zu sehen?
Coltrane: Ich und Lorelei.
Linklater: Du bist in einer Position, in der wahrscheinlich kein anderer Schauspieler je war.
Coltrane: Das ist schon krass, aber auch wunderschön und sehr befreiend, es anzuschauen.
Fischer: Und du hast Dir den ganzen Film wirklich angeguckt?
Coltrane: Ja, ich hatte zwischendurch ja noch nichts davon gesehen.
Linklater: Vor ein paar Monaten habe ich ihm das Material gegeben und gesagt: Guck Dir das alleine an und versuche, eine Beziehung dazu zu entwickeln. Es ist zwar ein Film, aber das bist auch du. Gewöhn' dich dran.
Linklater: "Es geht mir immer darum, Geschichten zu erzählen"
Fischer: Gab es unangenehme Momente beim Gucken, war Dir irgendwas peinlich im Nachhinein?
Coltrane: Nicht peinlich, sondern aufschlussreich. Und zwar in den Phasen meines Lebens, die mir nicht so bewusst sind wie andere. Wo ich nicht mehr wusste, wie ich da aussah oder wie ich so drauf war. Das zu sehen war schon sehr interessant.
Fischer: Richard Linklater, Sie sind ein Spezialist für Langzeitstudien geworden mit Ihrer Liebestrilogie Before Sunrise, Sunset und Midnight und jetzt mit diesem Film, was bringt Sie immer wieder dazu?
Linklater: Offensichtlich habe ich viel Geduld.
Fischer: Aber offensichtlich wollen Sie auch etwas herausfinden bei diesen Langzeitbeobachtungen.
Linklater: Es geht mir immer darum, Geschichten zu erzählen. Und dabei kann man den Faktor Zeit benutzen. Film und Zeit greifen als Kunstform stark ineinander, damit umzugehen, das ist mein Ding. Auch bei kürzeren Filmen als "Boyhood".
Fischer: Der Faktor Zeit ist ein Grund, warum sich Regisseure im Moment so auf Fernsehserien stürzen, sie sagen, da hat man endlich Zeit, zu erzählen, Figuren zu entwickeln. Das haben Sie in knapp drei Stunden "Boyhood" auch geschafft. Ist Ihr Projekt mit einer Serie trotzdem vergleichbar?
Linklater: Ich hatte 12 Jahre Zeit, ich tendiere wohl eher zum Spielfilmformat. Aber klar, das hat miteinander zu tun. In Fernsehserien verbringt man mehrere Jahre mit einer Figur, man glaubt, sie wirklich zu kennen. Und wenn die Serie zu Ende geht, fehlt einem was. "Boyhood" geht der Blütezeit des Fernsehens gewissermaßen voraus.
Coltrane: "Habe mich in das Projekt verliebt"
Fischer: Auch bei "Boyhood" kam irgendwann der letzte Drehtag, wie haben Sie den alle erlebt und verkraftet?
Linklater: Es war genauso, wie man es im Film sieht: Die Sonne ging unter ...
Coltrane: ... und die ganze Crew war zusammen in diesem Moment.
Linklater: Ein starker Moment, wie auf einem anderen Planeten. Zu wissen, das war die letzte Einstellung nach zwölf Jahren, und alles hat eigentlich so funktioniert, wie man sich das erhofft hatte, das ist toll. Ellar hat sich zum coolsten und interessantesten Typen entwickelt, den ich mir vorstellen konnte am Anfang. Auch meine Tochter, Ethan und Patricia und ihr Verhältnis zu ihrer Rolle - wow, das war einfach traumhaft.
Fischer: Ellar, bist du eigentlich der Schauspielerei verfallen im Laufe der zwölf Jahre?
Coltrane: Nein, aber ab einem bestimmten Moment habe ich mich in das Projekt verliebt. Das Ganze ist ja auf mich zugekommen, um ehrlich zu sein. Die Welt wollte wohl, dass ich schauspielere. Aber deshalb war es auch keine große Sache, ich habe es einfach gemacht. Ich glaube, ich möchte kein professioneller Schauspieler sein. Aber kreativ sein und künstlerisch arbeiten, das hat mir sehr gefallen und ich weiß, dass ich damit mein Leben verbringen will. Ich möchte Kunst machen. Und Bäume pflanzen, das ist mein Ziel, ich will die Welt retten.