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Film der Woche
Das oscar-prämierte Schoa-Drama "Son of Saul"

Den Oscar als bester nicht englischsprachiger Film hat dieses Jahr der ungarische Kandidat Son of Saul gewonnen. Davor den Golden Globe und den Grand Prix auf dem Filmfest in Cannes, wo das Filmdebut von Laszlo Nemes letztes Jahr kontrovers diskutiert wurde. Ein Film über den Holocaust, bei dem die Kamera konsequent an der Hauptfigur klebt.

Von Hartwig Tegeler | 09.03.2016
    Zu sehen ist der Schauspieler Geza Röhrig in dem Film Son of Saul
    Saul (Geza Röhrig) ist Gefangener eines KZ-Sonderkommandos (imago / ZUMA Press)
    Das erste Bild verschwommen. Als ob das Objektiv der Kamera nicht scharf gestellt ist. Irritation. Welche verschwommene Welt ist das? Geisterwelt? Gespenster? Untote! Tote! Wo sind wir hineingeraten. Irritation. Keine gewohnten Bilder. Dann der tote Ausdruck des Gesichts des Mannes, der auf uns zutritt. Saul. Und bei dem wir anderthalb Stunden lang bleiben werden. Wie in einer permanenten Nah-Aufnahme wird die Kamera fast nur das Gesicht oder den Hinterkopf von Saul zeigen. Saul in Auschwitz. Wenn ein neuer Transport ins KZ kommt beispielsweise mit denen, die in die Gaskammern geführt werden.
    Sauls Gesicht, sein Hinterkopf. Oder wir sehen das Geschehen aus Sauls Perspektive; eine, die sehr eng ist, denn Saul will nichts sehen, nichts bezeugen, sondern überleben. Das Geschehen am Rand seines Gesichtsfelds verschwimmt. Diese Fokussierung des Kamerablicks - gedreht ist der Film im engen, alten Kinoformat 4:3 - erzeugt eine schwer zu ertragende Intensität. Saul ist Mitglied eines Sonderkommandos; mit der Arbeit an den Gaskammern von Auschwitz oder den Krematorien hat er sich vier Monate Lebenszeit erkauft. So lange lebten die Juden aus den Sonderkommandos länger als die, die gleich zur Vernichtung gebraucht wurden.
    Beklemmende Nähe
    Der Einengung des Filmbildes gegenüber steht die Totale, die aufgerissene und gleichzeitige Brachialität der Tonspur. Die Akustik der Vernichtungsmaschine evoziert das Grauen in unserem Kopf. Geräusche, gebellte Befehle der SS, die schmeichelnden Lügen, mit denen die Menschen in die Gaskammern getrieben werden; dann wieder Schüsse, Hundegebell, Schreie, Keuchen. Dazu die Todesstarre im Gesicht von Saul, gespielt von Géza Röhrig.
    Dann findet Saul einen toten Jungen, von dem er behauptet - "Son of Saul" -, dass er sein Sohn war. Ob das stimmt, erfahren wir nie. Sauls Versuch, den Jungen rituell zu beerdigen, dieser Akt von Menschlichkeit ist in Lazlo Nemes' Film nicht moralisch begründet, erscheint eher ein instinktives, reflexartiges Aufbäumen zu sein. Die Menschlichkeit allerdings zeigt sich nicht im Gelingen der Bestattung, sondern darin, dass Saul inmitten der Hölle den Versuch unternimmt. Saul sucht einen Rabbi und "Son of Saul" zeigt seinen Irrgang durch das Vernichtungslager. Immer wieder Szenen von Willkür, Sadismus, Barbarei. Einmal sucht Saul Medikamente in der Krankenstation und wird von SS-Ärzten überrascht.
    "Was ist der Anlass Ihres Besuches, wenn ich fragen darf?"
    "Putzen!"
    "Putzen?"
    "Putzen."
    "Oi joi, joi, Putzen."
    "Rrrthhrrrr! Mazeltov. Raus hier!"
    Nie kommen wir in "Son of Saul" auf die Idee, dass Saul ein Überlebender sein wird. Das zu glauben, wäre obszön angesichts der totalitären Vernichtungsmaschine von Auschwitz. Wer also auf einen positiven, Juden rettenden, überlebenden Steven-Spielberg-Helden à la Oskar Schindler wartet, der wird in "Son of Saul" enttäuscht werden.
    1994 hat Steven Spielberg eine Reinszenierung des Holocaust als Hollywood-Film vorgelegt. "Schindlers Liste" wurde zum Referenzfilm, in dessen Folge Holocaust-Spielfilme Konjunktur feierten. Ob die Judenvernichtung überhaupt darstellbar war, diese Frage wurde nicht mehr gestellt. Der Holocaust geriet zum Mainstream im Kino. Ganz anders "Son of Saul". Mit Lázló Nemes' radikaler ästhetischer Form der Einengung des Blicks und der Explosion der Tonspur vermittelt dieser Film eine ungeheure, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, eine "ungeheure" Wucht.