Montag, 06. Mai 2024

Archiv

Film des Videokünstlers Omer Fast
Gestrandet wie Robinson Crusoe

Omer Fast ist ein gefeierter Videokünstler, aufgewachsen in Israel und den USA, seit ein paar Jahren lebt er in Berlin. Nun kommt "Remainder" in die deutschen Kinos. Der visuell überwältigende Film entwickelt einen fantastischen Sog, der den Zuschauer mitnimmt auf eine Reise in die Psyche eines seltsamen Menschen.

Von Florian Fricke | 10.05.2016
    Piffl Medien
    Ausschnitt aus dem Film "Remainder" von Omer Fast (Piffl Medien)
    Tom: "Über den Unfall kann ich wenig sagen. Irgendetwas fiel vom Himmel. Technologie. Teile. Splitter. Die mich auf den Boden warfen. Und dann – nichts mehr."
    Ein junger Mann wird auf offener Straße in London von herabfallenden Gebäudeteilen am Kopf getroffen und fällt ins Koma. Als er erwacht, besitzt er nur noch schemenhafte Erinnerungen nicht nur an den vermeintlichen Unfall, sondern auch an sein ganzes Leben. Noch im Krankenhaus beginnt das Feilschen um eine Abfindung. Tom, so heißt der junge Mann, bekommt einen Anwalt zur Seite gestellt, der einen fantastischen Deal mit der Gegenseite aushandelt.
    Anwalt: "Sie müssen von einer Klage absehen und dürfen über den Unfall weder öffentlich noch auf irgendeinem beschreibbaren Medium reden. Eigentlich müssen sie vergessen, dass er je passiert ist – rechtlich gesprochen."
    Tom: "Da gibt's nicht zu vergessen. Ich kann mich an nichts erinnern."
    Anwalt: "Umso besser. Wissen sie, wie viel sie bekommen? Achteinhalb Millionen Pfund. Achteinhalb Millionen."
    Kosten spielen keine Rolle
    Doch Tom legt sich nicht auf die faule Haut oder macht eine Weltreise. Er hat nur ein Ziel: seine Erinnerung wiederzugewinnen. Die Schemen in seinem Kopf sollen sich wieder zu einem scharfen Bild zusammenfügen. Er engagiert Naz, einen Dienstleister, spezialisiert auf Sonderwünsche aller Art. Naz entmietet ein ganzes Mietshaus und richtet es nach Toms Erinnerungsfetzen neu ein. Statisten spielen die vermeintlichen Nachbarn, Kosten spielen keine Rolle.
    Tom: "Da ist eine alte Dame, und sie trägt ein Kopftuch.
    Naz: "So was wie ein Hijab?
    Tom: "Nein, wie ein Taschentuch. Wirres, weißes Haar, Socken, Hausschuhe. Und sie kocht Leber – die ganze Zeit. Und der Duft von gebratener Leber muss hinaufwehen in meine Wohnung.
    Es entwickelt sich ein fantastischer Sog, der den Zuschauer mitnimmt auf eine Reise zurück in die Zeit und in die Psyche dieses seltsamen Menschen. Wer ist dieser manische Tom, und was treibt ihn an? Regisseur Omer Fast:
    "Für mich ist er ein bisschen wie ein Charakter gespalten zwischen Künstler und Gentrifizierer. Und wir sind hier in Berlin. Es ist auch nicht willkürlich, dass diese zwei Rollen miteinander zu tun haben auch in der echten Welt. Und das war als Subtext für mich auch wichtig ins Spiel einzubringen."
    Naz: "Wer wohnt sonst noch in dem Haus?"
    Tom: "Es gibt einen Pianisten, zwei Etagen unter mir. Am Nachmittag unterrichtet er Kinder, aber in der restlichen Zeit komponiert er. Und der Klang des Klaviers muss in meine Wohnung hinaufwehen wie der Geruch der gebratenen Leber."
    Verdrängung durch Gentrifizierung
    Es ist kein Zufall, dass "Remainder" im Süd-Londoner Stadtteil Brixton spielt, der vor allem durch karibische Migranten geprägt ist. Ähnlich wie in Berlin droht vielen der Einwanderer die Verdrängung durch Gentrifizierung. Der gedächtnislose Tom ist in dieser Welt gestrandet wie Robinson Crusoe. Weil er es kann, baut er sich seine eigene Welt auf der Suche nach der Wahrheit, ohne Rücksicht auf Verluste. Omer Fast sieht in der Figur des Tom Berührungspunkte zu seiner eigenen Welt, der Welt der Kunst.
    "Es war für mich sehr verführerisch, weil als Künstler erkennt man, dass die Geschichte viel mit dem künstlerischen Schaffen zu tun hat, und dass der Protagonist, obwohl er kein Künstler selber ist, im Buch verachtet er sogar Kunst – dennoch hat er die Mittel und die Leidenschaft etwas zu schaffen. Er hat eine fragmentierte Vision, aber er versucht sie zu inszenieren. Insofern bietet sich diese Geschichte an als die Erzählung eines Künstlers."
    Tom: "Am Tag unterrichten sie Kinder. Abend komponieren sie, und wenn wir laufen, verlassen sie nie die Wohnung."
    Pianist: "Was soll ich komponieren?"
    Tom: "Chopin."
    Pianist: "Chopin ist schon komponiert."
    Tom: "Dann komponieren sie ihn neu."
    Der Film, der sich im letzten Drittel immer mehr zu einem Thriller verdichtet, hallt noch lange nach. Das hängt auch an Hauptdarsteller Tom Sturridge und seinem großartigen somnambulen Spiel. Und, soviel sei verraten, an einem unerwarteten Kunstgriff, der die ganze Komplexität der Thematik um das Wesen von Kunst im besten Sinne verdeutlicht.
    "Das, was wirklich wichtig ist, ist natürlich viel mehrdeutiger und abstrakter. Das, was er versucht herauszufinden und was er Ende bekommt, und das sind zwei unterschiedliche Dinge, die man nicht so fest definieren kann. Das ist das abstrakte da, und deshalb ist es immer noch ein Film, der nicht in so einem Multiplex – es wird niemals funktionieren."
    Omer Fast hat mit "Remainder" einen besonderen Film erschaffen – Tom, sein Protagonist, wäre stolz auf ihn.
    Tom: "Ich will mehr Details. Sehen sie sich die Wände an, die sind nicht richtig. Der Lift sollte aus Metall sein, und die Lichter hier am Rand. Wenn die Details nicht stimmen, funktioniert es nicht, besonders draußen. Es klingt flach. Und der Himmel ist so klar, ich will – Wolken. Wie lange wird das dauern?"