
"Siehst Du. Auf dem Turm da stand ich gestern." – "Können wir da hoch?" – "Ja, ich schon. Du nicht." – "Warum?" –"Weil Du Höhenangst hast." – "Höhnangst?" – "Nein Höhenangst, wenn etwas hoch ist Höh- Hen- Angst." – "Seit wann?"
Lenas biografisches Gedächtnis ist total verschwunden. Sie weiß nicht einmal mehr von ihrer Höhenangst. Eine unbemerkte Hirnhautentzündung hat eine retrograde Amnesie ausgelöst. Jetzt kann sie sich nicht mal mehr an ihren Mann und ihre Freunde erinnern. Sie kennt auch die elementarsten Gefühle nicht. "Aha Lachen", sagt sie zum Beispiel und versucht zu verstehen was Freude ist. Auf alten Fotos erkennt sie sich nicht wieder und fühlt sich in ihrem angeblichen alten Leben völlig fremd. Sie hat ihre Identität verloren. Auch moralische Grundsätze wie das Treueversprechen an ihren Ehemann kennt sie nicht. Naiv und unschuldig berichtet sie Tore von einem Nachmittag in der Stadt, an dem sie einem ihr völlig Fremden begegnet ist.
"Wir waren in einem Café und dann haben wir zusammen geschlafen." – "Ihr habt was?" – "Zusammen geschlafen."
Ehemann Tore und auch alle Freunde versuchen sie einfach nur in ihr altes Leben zurückzuholen, buchstabieren es ihr quasi vor und eine Weile versucht Lena, ihr Leben mit allen Worthülsen und Verhaltensweisen nachzuspielen. Doch die alte Hülle taugt nichts mehr.
Sich selbst neu erfinden
Normalerweise hat jeder in seinem Leben nur eine einzige, mühsam genug erarbeitete Identität und kaum eine Chance, in eine andere zu schlüpfen. Regisseur Jan Schomburg ergreift in diesem Film entschlossen die Möglichkeit zu einem Gedankenexperiment: Wie wäre es, wenn wir die Gelegenheit bekämen uns völlig neu erfinden - bis in die Haarspitzen hinein der Ordnung der Dinge in unserem Inneren eine neue Architektur zu geben?
Schon in seinem Debütfilm "Über uns das All" hatte Schomburg von einer Frau erzählt, die den Verlust ihres Partners zu überwinden versucht, indem sie einen anderen Mann mit wahnhafter Konsequenz einfach zum identischen Doppelgänger umdefiniert. Hauptdarstellerin Sandra Hüller erschafft in diesem vielbeachteten Film ihre eigene Wirklichkeit. Das ist auch Maria Schraders Aufgabe im neuen Film, dem der Titelkalauer "Vergiss mein Ich" nicht wirklich hilft. Sie macht das mit einer guten Portion Selbstironie, die dem Film mit seiner strengen Versuchsanordnung entschieden guttut. Irgendwann gehen Filmfigur Lena all die Versuche ihrer Umgebung, sie immer wieder auf die gewohnte Identität festzulegen zu weit. Sie erkennt, dass ihr Drang, sich neu zu erfinden allen Anderen einfach nur unbequem ist - vielleicht, weil die sich selbst vor ähnlichen Wünschen schützen wollen. In Jan Schomburgs psychoanalytischem Experiment wird es laut.
"Ich will einfach nur Ich selbst sein, nicht irgendwie tun für irgendwen. Einfach nur Ich sein." - "Du willst einfach nur Ich sein? Wo hast Du denn das her? Aus einer Vorabendserie?" - "Nein das hab ich von mir."
Film mit philosophischem Konzept
Man kann diesen Film gedanklich überfrachtet finden oder einfach zu intellektuell. Aber es lohnt sich doch, solche Ideen hinüber zu retten in die filmische Fantasie. Zum Beispiel lässt sich Lena im Altenheim auf ein Gespräch mit einer alten Frau ein, von der sie denkt, sie sei ihre Mutter. Und plötzlich scheint Empathie auf. Schomburg ist ein ganz Großer der kleinen Form, dekliniert sein Grundthema konsequent durch und lässt doch Raum für Scherz und Ironie.
Wer etwas lernen will im Kino ist nicht ganz falsch in diesem Film, der ein philosophisches Konzept vertritt: Sind wir verdammt dazu, ein einziges Identitätskonzept zu verfolgen? Oder können wir dem doch entfliehen. Und sei es nur für ein paar Kinostunden, da kann man ja sowieso mehrere Leben leben.