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Film "Istanbul United"
Fußballfeindschaft ausgesetzt

In Istanbul sind die drei Fußballvereine Beşiktaş, Fenerbahҫe und Galatasaray verfeindet und auch für ihr Gewaltpotenzial bekannt. Auf dem Taksim-Platz protestierten die Konkurrenten gemeinsam. Dieses außergewöhnliche Bündnis haben die Filmermacher Olli Waldhauser und Farid Eslam in ihrem Fim "Istanbul United" begleitet.

Von Simone Schlosser | 18.09.2014
    Anhänger der Besiktas Istanbul-Fangruppe Carsi im Mai 2014 auf dem Taksim-Platz in Istanbul
    Anhänger der Besiktas Istanbul-Fangruppe Carsi im Mai 2014 auf dem Taksim-Platz in Istanbul (OZAN KOSE / AFP)
    Die Çapulcu sind da. Die Plünderer sind da. Mit dieser Parole ziehen die schwarz-weiß gekleideten Fans von dem Istanbuler Fußballverein Beşiktaş auf dem Taksim-Platz ein. Normalerweise wäre eine derart große Gruppe in Vereinsfarben gekleideter Fußball-Anhängern bedrohlich. Türkische Fans sind für ihr Gewaltpotenzial bekannt. Doch während der Proteste im Gezi-Park stimmen die anderen Demonstranten in die Gesänge ein. Selbst die Anhänger der beiden anderen verfeindeten Istanbuler Fußballvereine Fenerbahҫe und Galatasaray.
    Schwarz-weiß solche Gesangsduelle hört man sonst nur im Stadion von Beşiktaş. Doch der Text ist in diesen Tagen egal. Für die Dauer der Proteste haben die drei Fangruppen ihre Rivalität abgelegt. Welche Überwindung das kostet, kann nur verstehen, wer, wie der Filmemacher Olli Waldhauer, selber Fußballfan ist.
    "In dem Moment habe ich mich gefragt, als Kölner, okay, ich müsste mit einem Düsseldorfer und einem Gladbacher nebeneinander im Trikot stehen, wie fände ich das? Was müsste passieren, damit das passiert?"
    Die Antwort darauf geben Olli Waldhauer und Farid Eslam in ihrem Film. Das Herzstück bildet die Räumung des Taksim-Platzes. Die eigenen Aufnahmen haben die beiden Filmemacher mit Handy-Bildern anderer Demonstranten gemischt. Sie zeigen ein derart gewaltsames Vorgehen der Polizei, dass es schwerfällt, hin zu schauen. Doch in dieser Brutalität liegt die Ursache für das Fan-Bündnis:
    "Der Ausschlag, die Grenze zu überwinden, glaube ich, war die maßlose Polizeigewalt. Ich glaube, dass die Jungs echt gedacht haben, teilweise, so was kann nicht sein. Ihr könnt so mit uns umgehen als Fußballfans, weil wir sind eh eine soziale Randgruppe für euch, die sich nicht benehmen kann, aber ihr könnt jetzt nicht mit Frauen und Kindern so umgehen."
    Fußball-Fans wie Kavallerie
    Einen Journalist von der Istanbuler Tageszeitung "Radikal" erinnert das gemeinsame Auftreten der Fußball-Fans an das Eintreffen der Kavallerie. Ein Vergleich, der Gänsehaut erzeugt.
    "Auf einmal sind da Jungs, die sind es halt gewohnt, Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht zu haben. Die sind gewohnt, mit Tränengas umzugehen. Und die haben keine Angst davor. Das war glaube ich psychologisch eine große Unterstützung für den durchschnittlich Normal-Demonstranten, weil die wussten, die Jungs sind jetzt da."
    Der Film zeigt auf beeindruckende Weise, wie sich die Fußball-Fans vor die anderen Demonstranten stellen. Wie sie Straßenbarrikaden errichten und wie sie Tränengaskartuschen abfangen und in Plastikflaschen entschärfen. Welchen Schal sie dabei tragen ist irgendwann egal.
    "Das ist genau das, worum es geht. Es war kein geplanter Zusammenschluss. Und ja, vielleicht ist dieser Name, Istanbul United, auch von irgendeinem Marketingvogel erfunden worden, der gar nicht in Istanbul gesessen hat. Who the fuck cares? Das ist der Name für einen temporären Zusammenschluss von Individuen. Ob der heute Bestand hat, steht auf einem anderen Blatt."
    Auch darauf geht der Film ein. Insgesamt viermal sind Olli Waldhauer und Farid Eslam in Istanbul gewesen.
    Fans vertrauten den Filmemachern
    In der Zeit haben sie ein enges Vertrauensverhältnis zu ihren Protagonisten aufgebaut. Alle drei äußern sich ungewohnt offen, sowohl über die Liebe zu ihrem jeweiligen Verein als auch über den Hass, der damit einhergeht. Außerdem durften die beiden Filmemacher als erste überhaupt in allen drei Fan-Kurven drehen. Dort hat sich seit dem Ende der Proteste wenig verändert. Aber in den Stadien ist ein neuer Ruf dazu gekommen: Taksim ist überall!
    "Istanbul United" ist ein bemerkenswerter Film. Nicht nur für Fußball-Fans. Man kann ihm vorwerfen, dass er die politischen Hintergründe der Demonstrationen zu wenig thematisiert, aber der Film ist kein Film über die Gezi-Proteste, sondern ein Film über Fußball. Als solcher gibt er einmalige Einblicke in eine Sub-Kultur, die Außenstehenden normalerweise nicht zugänglich ist, und die es womöglich nie wieder sein wird.
    "Dadurch, dass die Sachen sich verändert haben, wird das nie wieder passieren. Ich meine, ich war fertig mit drehen, und danach sind ein Teil meiner Protagonisten verhaftet worden, weil sie angeblich terroristische Organisationen gegründet hätten. Die hatten dann auch auf einmal keinen Bock mehr auf Medien. Wir waren genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort."