Samstag, 11. Mai 2024

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Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben.

"Verhängnis" ist ein schweres Wort, beladen mit dem Gewicht des Unabwendbaren. Das mittelhochdeutsche Verb "verhengen" meinte das "Geschehen lassen" einer "göttlichen Fügung", die dann im Zeitalter der Aufklärung in das moderne "Schicksal" umgetauft wurde. Wenn in der Literatur der Moderne das Wort "Verhängnis" als zentrale Signatur eines Textes auftaucht, dann werden wir in der Regel auf die letzten Dinge eingestimmt, auf die Fundamente der Existenz - auf Geburt und Tod und die tückische Lebensstrecke, die zwischen diesen beiden Daseins-Polen liegt. Die Literatur der Ilse Aichinger hält von ihrem Ursprung an, beginnend mit den legendären Prosatexten "Die größere Hoffnung" und "Spiegelgeschichte", auf jenes Terrain zu, das von den Schicksais-Linien des "Verhängnisses" markiert wird. Das hat zunächst biographische Gründe. Am l. November 1921 als Tochter einer jüdischen Ärztin und eines nicht-jüdischen Lehrers in Wien geboren, hat Ilse Aichinger ihr Dasein nie anders erfahren als Vertreibung an die Ränder der Existenz. Das faschistisch entflammte Wien der dreißiger und vierziger Jahre hat der Halbjüdin und ihrer Familie immer nur verborgene Lebens-Nischen zugestanden, wo zwar noch Träume, aber keine Hoffnungen mehr gedeihen konnten.

Michael Braun | 01.11.2001
    Von jenem Land der Träume, das ein lebenslanges Refugium bot gegen die Macht des Verhängnisses, handeln nun zwei neue, unerwartete, nach langem Schweigen veröffentlichte Bücher der Achtzigjährigen. Im zuletzt erschienenen Band, den 1987 publizierten Aufzeichnungen "Kleist, Moos, Fasane", war das Bewusstsein der Fatalität des Daseins bis an eine kaum überschreitbare Grenze vorangetrieben. Das Leben wird hier als ein Kontinuum "tödlicher Augenblicke" erfahren:

    In der Erstarrung fällt Schreiben mit Atmen zusammen. Beide Möglichkeiten werden gleich schmal. D.h. das Schreiben schmilzt ein. Das Leben selbst wird zum Schreiben. Und ebenso schwierig. Jeder Atemzug muß für viele Stunden reichen. 1973 Die Unfähigkeit zu leben bis zum Ende ausspielen. Keine Zeit, um genug Angst zu haben. Ich bin nicht mehr darauf gefasst, geboren zu sein. Versuchen, in diesen tödlichen Augenblicken zu Hause zu sein.

    Gegen das "Verhängnis" der tödlichen Lebens-Augenblicke wird nun in Aichingers jüngstem Werk ein überraschendes Zeichen der Hoffnung gesetzt durch ein der Literatur benachbartes Genre: den Film. "Film und Verhängnis" - das ist eine zunächst überraschende Koppelung von Elementarerfahrungen, eine Verbindung, die aus den Zumutungen einer gewalttätigen Geschichte heraus zu führen scheint. Und tatsächlich fand die junge Ilse Aichinger im Kino und im Film den Ort einer provisorischen Rettung. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die Großmutter, bei der Ilse Aichinger gemeinsam mit ihrer Mutter Unterschlupf gefunden hatte, aus ihrer Wohnung im Dritten Bezirk Wiens ausgewiesen, in ein Massenquartier verbannt, später dann deportiert und mit den jüngeren Geschwistern der Mutter im Todeslager Minsk ermordet. Mit dem tödlichen Zynismus der Macht teilte man damals der Halb Jüdin Aichinger und ihrer Mutter ein Zimmer in unmittelbarer Nähe des Gestapo-Hauptquartiers zu. Diese Jahre der unmittelbaren Todesdrohung werden nun durch die "Blitzlichter auf ein Leben" aufgehellt, die Ilse Aichinger in "Film und Verhängnis" gesammelt hat. Ursprünglich sind diese Erlebnisbilder der Kinogeherin Ilse Aichinger als regelmäßige Kolumnen in der Wiener Tageszeitung "Der Standard" erschienen. Aus diesen Splittern von Porträts, Glossen, Foto-Meditationen, Kindheitsbildern und lakonischen Kurzerzählungen formt sich nun umrisshaft eine Autobiographie, die ihre Urszenen aus Kino-Erfahrungen gewinnt. Aus den Bedrückungen der Kindheit heraus bahnte sich die junge Ilse Aichinger den Weg ins "Fasan"-Kino und den "Sascha-Palast", später dann ins "Schwarzenbergkino", in denen sie aus den kinematographischen Glücksversprechen die Rezepturen für ihr Überleben bezog.

    "Die Erlösung war das Kino", heisst es denn auch an einer Stelle dieser "Blitzlichter", einer Betrachtung zu dem Dokumentarfilmer Hartmut Bitomsky. Wo genau diese provisorischen, stets gefährdeten Orte der Erlösung zu finden sind, wird in der zweiten neuen Publikation Ilse Aichingers markiert, die ihre bislang verstreut veröffentlichten Prosagedichte aus den Jahren 1953 bis 1955 versammelt. Schon in ihrem Roman "Die größere Hoffnung" hat Ilse Aichinger den Raum der Kindheit vermessen, später dann auch in den autobiographischen Streiflichtern des kryptischen Bandes "Kleist, Moos, Fasane". Zum zentralen Gegenstand werden die Straßen und Gassen der Kindheit erst in den suggestiven Vexierbildern und die Sinneseindrücke verdichtenden Prosagedichten des Bandes "Kurzschlüsse. Wien". Hier regiert eine Sprache der extremen Verknappung und Aussparung, die ihr Misstrauen gegen lineare Erzählverläufe und Zusammenhänge richtet und sich lieber auf das vertrackte Paradoxon oder den skeptischen Zweifel verlässt. In den "Kurzschlüssen" tauchen nicht die touristischen Standard-Orte Wiens auf, sondern die unbeachteten Nebenschauplätze, an denen sich Geschichte ereignet hat. In dem Text "Judengasse" weht z.B. der Wind aus dem Osten, jener Himmelsrichtung, die mit der jüdischen Geschichte in unmittelbarem Zusammenhang steht. Aus dem Osten kamen die meisten Juden nach Wien, und später führte in diese Himmeisrichtung der Weg in die Vernichtungslager. All diese geschichtlichen Daten, all die furchtbaren Vorgänge der Verschleppung und des Massenmords werden im Prosagedicht "Judengasse" nicht direkt benannt, sondern in knappen Sätzen der Andeutung, in offen bleibenden Sätzen der Trauer aufgerufen. So in der Judengasse:

    Katzenköpfe. Was unsere Straßen schmückt, sind nicht mehr die Schädel der Opfertiere. Unser Stolz ist vergangen. Hinter unseren Gängen ticken die Uhren ins graue Licht. Junge Männer fragen lächelnd nach unseren Wünschen. Da rauscht kein rotes Meer. Nur unsere Wäsche trocknet noch im Ostwind. Es ist geschehen, weil wir die Nacht nicht abgewartet haben. Als die Sonne unterging, sind wir ihr nachgezogen. Und hier ist die Stelle, an der wir müde wurden, hier bauten wir Häuser. Hier ging die Sonne unter, hier krümmten wir uns, ohne uns zu beugen. Seither wächst Gras zwischen den Steinen.

    An einer Stelle führt der Weg der Dichterin auch zum "Schwarzenbergplatz", ein Ort, an dem sie 1943 in einer Apothekenbuchstelle dienstverpflichtet war. Erst in den "Blitzlichtern" der Film- und Kino-Kolumnen gewinnt dieser Ort wie auch die anderen Schauplätze der Kindheit eine genauere biographische Kontur. Was in den Prosagedichten und Erzählungen früherer Jahre ganz verborgen blieb hinter einer leuchtenden Rätselsprache, wird in den Lebensbildern des Bandes "Film und Verhängnis" in eine fragmentarisch angelegte "Geographie der eigenen Existenz" eingefügt. Aber auch in diesen scheinbar so mitteilsamen Kino-Erinnerungen spricht noch immer die literarische Verhängnisforscherin Ilse Aichinger, die schon immer das Geborensein und das Lebenmüssen zum größten Unglück erklärt hat und nun auch die Kino-Reflexionen zu einem "Journal des Verschwindens" umfunktioniert, das von den Fatalitäten der Existenz handelt.

    Als Helden des Kinos werden vorwiegend jene Schauspieler und Regisseure benannt, die über ein Bewusstsein jener Existenz-Verhängnisse verfügen. Die exzentrische Schauspielerin Lya de Putti, die als junge Frau an einem Hühnerknochen erstickte, wird ebenso zur Identifikationsfigur berufen wie der legendäre Humphrey Bogart, dem eine "Nachdenklichkeit über Einsamkeit und Tod" zugeschrieben wird. Selbst Stan Laurel und Oliver Hardy, die legendären Akteure des aktionistischen Slapstick-Kinos, erscheinen hier als Repräsentanten einer fatalistischen Lebenshaltung, die sich vor zu großem Leid mit der "Souveränität der Lächerlichkeit" schützen. Zu den berührendsten Texten in "Film und Verhängnis" zählen die intensiven Meditationen zu Kindheitsfotos der Zwillingsschwestern Aichinger und des Schriftstellers H.C. Artmann. Das Foto der Schwestern Helga und Ilse Aichinger zeigt die beiden Mädchen in einem Boot auf dem Aussee, dem Sommerferien-Domizil der frühen Jahre. Das "liebste Ziel" der be-'-den Kinder, so notiert Ilse Aichinger sechzig Jahre nach dem Entstehen des Fotos, sei es, "nirgends zu landen und zuletzt im Stehen beerdigt zu werden". Dieses Verfallensein an die letzten Dinge zeigt sich auch in der Betrachtung zu dem faszinierenden Kinderfoto H. C. Artmanns. Der Junge auf dem Schlitten, so Aichinger, sei "verschneit von Existenz". So habe sich der Schriftsteller Artmann zeitlebens auf Verluste eingestellt, auf das Abhandenkommen von "Glücks- und Unglückschancen". An dieser Erfahrung der Illusionslosigkeit arbeitet auch die Literatur Ilse Aichingers: sie betreibt die Einübung in das eigene Verschwinden. Zu den Orten des Verschwindens, die ins Herz der Finsternis führen, kehrt die Autorin in ihren Texten immer wieder zurück. So auch in ihrem Prosagedicht "Landstrasse", das von einem Ort erzählt, an dem die Finsternis nicht enden will:

    ...Nicht weit, auf einer Gasse, die gleichläuft, wurde Mozart im Dunkeln auf den Friedhof gefahren, und in der dritten Quergasse nach unten, wo die Gleise unter den Brücken hinführen, wurden die Juden nach Polen gebracht. Seither ist Zeit vergangen, aber nicht viel. Die Stunden rücken langsam, während die Kinder im Stadtpark Pfauen und Schwäne füttern. Jede Nacht steigt neue Finsternis herauf und gibt sich als Ordnung aus. Aber der grauende Tag beruft sich auf den großen Fluß mit seinen Auen, der nicht weit sein soll.