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Filme von James Benning im Hamburger Kunstverein
Widerstand und Autonomie

Als ein Vorläufer der Diskussion um Freiheitsbeschneidung durch Datenspionage kann der amerikanische Experimentalfilmemacher James Benning gelten, der schon früh Kritik an der Technikgläubigkeit der Industriekulturen ins bewegte Bild bannte. Der Hamburger Kunstverein stellt ihn jetzt vor.

Von Carsten Probst | 14.02.2015
    Große, weite, amerikanische Landschaft. Eisenbahnbahnschienen mitten durch die Einsamkeit. Erst hört man den Zug, dann sieht man ihn. Gemächlich schiebt er sich ins Bild, fünf Dieselloks hintereinander. Und die Einstellung der Kamera verharrt genau so lange, bis der letzte der dann folgenden 98 Waggons den Bildausschnitt wieder verlassen hat. Dann folgt die nächste Einstellung, die nächste weite, amerikanische Landschaft, der nächste einsame Zug. Wer sich auf diese überaus schönen Landschaftspanoramen James Bennings mit den meditativ durch sie hindurch scheppernden Waggons einmal eingelassen hat, kann damit gut und gern einige Stunden zubringen, man vergisst die reale Zeit und beginnt geduldig zu warten, bis jeder der Züge vollständig das Bild durchquert hat.
    In seiner ersten retrospektiven Solo-Show in Deutschland betont James Benning dabei noch die Wichtigkeit von Zeit für die volle Wahrnehmung seiner Arbeiten: Auf der einen Seite des abgedunkelten Raumes projiziert ein 16 Millimeter-Projektor die Bilder an die Wand. Auf der gegenüberliegenden Seite sieht man Bilder in HD-Format aus einem Beamer. Zwischen der grobkörnigen analogen und der hochauflösenden digitalen Aufnahmetechnik liegt die Distanz einer ganzen Epoche, eine sichtbare und fühlbare Zäsur im Zeitalter des Bildes – ebenso wie in den Filmen selbst zwischen der einst unberührten amerikanischen Weite und ihrer gewaltsamen Erschließung durch Landnahme, Verwüstung, Kartierung und die Eisenbahn.
    Die Züge sind nicht mehr die von Dampfloks gezogene Holzkisten aus Westernfilmen. Heute transportieren sie kilometerlange Reihen von Standard-Großcontainern von einem durchcomputerisierten Terminal zum nächsten. Zu den Geräuschen des Zuges spielt Benning dazu immer wieder auf der Tonspur den Sound der US-amerikanischen Mediengeschichte ein: die Übertragung eines Baseballspiels, einen Coca-Cola-Werbejingle, Eisenhowers Abschiedsrede, einen Mormonenchor, der ein patriotisches Lied anstimmt oder den Rap-Song "Fuck the Police".
    Die Parallele zwischen der gewaltsamen Geschichte von der Besiedlung des amerikanischen Kontinents und der Digitalisierung der Welt durchzieht James Bennings überaus vielgestaltiges Werk wie ein Leitmotiv seit den 60er-Jahren. Zeit ist ein zentraler Ansatz innerer Wahrnehmung. Die Inständigkeit, mit der er sein Publikum dazu anhält, sich für seine szenischen Installationen viel Zeit zu nehmen, erinnert durchaus auch an die Entschleunigungsstrategie eines John Cage – aber der 1942 in Milwaukee als Sohn deutscher Einwanderer geborene Benning denkt dabei kaum wie Cage an fernöstlich-spirituelle Meditation. Eher erscheint er als ein später Adept des deutschen Idealismus.
    Zwei nachgebaute Waldhütten symbolisieren das in dieser Retrospektive. Die eine gehörte Henry David Thoreau, die andere Ted Kaczynski. Beide waren Zivilisationsflüchtlinge, beide zogen sich in die Einsamkeit der amerikanischen Weite zurück, um ein autonomes Leben zu führen, was immer das im einzelnen auch heißen mag. Beide gelangten zu einschlägiger Berühmtheit: Thoreau als Prophet des zivilen Ungehorsams, der im 19. und 20. Jahrhundert zahlreiche amerikanische Schriftsteller inspirierte, aber auch von Mahatma Gandhi und Martin Luther King rezipiert worden sein soll.
    Der Mathematiker Ted Kaczynski wurde in den 90er-Jahren als Unabomber bekannt, nachdem er zahlreiche Menschen durch Briefbombenattentate verletzt und getötet hatte. Auch er lebte als Selbstversorger zurückgezogen in einer Waldhütte, verfasste ein Manifest über die "Industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft", das in der New York Times und Washington Post abgedruckt wurde und heute, vor dem Hintergrund der Machenschaften der NSA, zu neuer Aktualität gelangt ist.
    Bettina Steinbrügge, die Leiterin des Hamburger Kunstvereins, betont sicherheitshalber, dass diese Bezugnahme James Bennings auf den lebenslang in einem US-Hochsicherheitsgefängnis einsitzenden Unabomber nicht als Glorifizierung von Terrorismus verstanden werden sollte. Könnte ja sein, dass ein hysterisierter Feuilletonist nach Charlie Hebdo und Hamburger Morgenpost hier gleich einen neuen Aufreger wittert.
    Doch der einzige Anschlag, den James Benning seit jeher in seinem ganz allein entstandenen Werk unternimmt, ist der auf die digitalisierte Zeitökonomie. Dass er sein Publikum dazu bringt, sich für seine Ausstellungen Zeit zu nehmen, erscheint mittlerweile schon revolutionär genug.