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Filmkritik: "Freistatt"
Grausame Heimerziehung

In seinem Film "Freistatt" beschwört Regisseur Marc Brummund eine fast vergessene Zeit herauf, in der die Bundesrepublik am Erbe ihrer Vergangenheit litt, ohne es loszuwerden. Es geht um ein christliches Kinderheim, in dem sich die Erziehungsmethoden oft durch rohe Gewalt auszeichnen.

Von Josef Schnelle |
    Stephan Grossmann (l) als Bruder Wilde und Louis Hofmann als Wolfgang in einer Szene des Kinofilms "Freistatt" (undatierte Filmszene). Das Drama kommt am 25.06.2015 in die deutschen Kinos. Foto: Salzgeber & Company Medien/dpa (zu dpa-Kinostarts vom 18.06.2015 - ACHTUNG: Verwendung nur für redaktionelle Zwecke im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den genannten Film und nur bei Urheber-Nennung Foto: Salzgeber & Company Medien/dpa)
    Stephan Grossmann (l) als Bruder Wilde und Louis Hofmann als Wolfgang in einer Szene des Kinofilms "Freistatt". (picture alliance / dpa / Salzgeber & Company Medien)
    "Renitent, ungehorsam, sechs Monate Erziehungsheim Heidequelle, nach drei Monaten ausgerissen, aggressives Verhalten." - "Ich hab mich nur gewehrt." - "Leugnet sein Verhalten, lügt, keine Einsicht, kein Wille zur Besserung." - "Ich hab noch nie jemanden geschlagen. Ich bin nur hier, weil mein Stiefvater mich loswerden will." - "Verstehe."
    Der 14-jährige Wolfgang wird ins Erziehungsheim "Freistatt" eingeliefert. Das liegtin der norddeutschen Moorlandschaft. Hier in dem einst als evangelische reformpädagogische Einrichtung gegründeten Ableger der Bodelschwingh'schen Anstalt Bethel herrscht das Prinzip "Beten und Arbeiten" - Prügelattacken und Quälereien nicht ausgeschlossen. Die Besserungsanstalt für Schwererziehbare ist - so erzählt dieser Film nach authentischen Dokumenten und Biografien -1968 noch weit weg von der Aufbruchsstimmung der Studentenbewegung der 1960er-Jahre. Die Jugendlichen, die hier unter Aufsicht schrecklicher Pädagogen ihr Leben mit harter Arbeit im Torf durchstehen müssen, leiden unter einem autoritären und repressiven System. Anderswowird schon der "Muff von tausend Jahren unter den Talaren" vertrieben undsexuelle Emanzipation sowie die Revolte gegen die verkrustete Wirtschaftswundergesellschaft gepredigt. Die Zöglinge, die mit ihren unbequemen Holzsandalen in den Torf ziehen, in dem sie ohne jeden Lohn bis zum Umfallen arbeiten müssen, intonieren noch das Lied von den Moorsoldaten, das 1933 Häftlinge des Konzentrationslagers Börgermoor im Emsland erfunden hatten.
    Das Moorsoldatenlied wurde bei den Nazis offiziell bald verboten, doch selbst die SS-Offiziere hörten es immer wieder gerne. Es wurde später durch Ernst Busch und Hannes Wader zum trotzigen Mittelpunkt des gesungenenWiderstands gegen die faschistische Diktatur. Dass die "schwarzen Pädagogen" von der kirchlichen Einrichtung es bis in die 1970er Jahre erklingen ließen, zeugt von heute kaum verständlicher Unbekümmertheit. Den Jugendlichen im Torf und unter der Knute ist die ganze Komplexität der Entwicklungen noch nicht klar. Hauptfigur Wolfgang will nur noch entkommen, weiß sich aber nicht einmal mehr der mitfühlenden aber schwachen Mutter zu erklären.
    Starke Darstellung einer Zeit voller Gegensätze
    "Sa mah, was hast Du denn?" - "Schluss jetzt, was geht da bei Ihnen vor?" - "Ich weiß nicht was ihr Sohn Ihnen erzählt hat aber.." - "Ich möchte mit ihm reden." - "Was ist da überhaupt los? Wolfgang ist vollkommen abgemagert. Natürlich. Und er wird geschlagen" - "Christliche Heimerziehung."
    Regisseur Marc Brummund schafft es in diesem eindringlichen Film, eine fast vergessene Zeit herauf zu beschwören, in der die Bundesrepublik noch lange am Erbe der Vergangenheit litt ohne es richtig loszuwerden. Allerdings sind die grell-leuchtenden Kinobilder die die Kamera dem Moor abtrotzt fast ein bisschen zu schön für diese düstere Geschichte. Dafür geben sich die Darsteller doch ziemlich viel Mühe, die Komplexität ihrer Figuren herauszuarbeiten. Dass es solche Zustände noch bis in die 1970er Jahre hinein gab, arbeitet der Film mit musikalischen Akzenten ab, die den eigentlich herrschenden Zeitgeist immer wieder ins Spiel bringen. Erst 2009 begann die Aufarbeitung durch die Betreiber mit einer großen Studie über die Zustände in der "härtesten" Einrichtung der Jugendfürsorge.
    Inzwischen bemüht sich die Diakonie Freistatt mitten in Niedersachsen um Wiedergutmachung und Offenheit und hat auch die Dreharbeiten dieses Films um das gar nicht so leichte Erbe der Institution unterstützt. Am Ende dieses Films, der sich in die Tradition von Jugendzöglingsfilmen wie "Der junge Törless" von Volker Schlöndorff von 1966 nach Robert Musil mühelos einordnet, steht dann doch die Rebellion. Richie Havens Woodstockhymne "Freedom" erreicht sogar das repressive Erziehungsheim. Vielleicht war die Kraft der Musik sogar das wichtigste Kapital der 68er und ihrer Unterstützer.
    "Sometimes I feel like a motherless child. Freedom. Freedom." - "Schluss jetzt. Hört auf."
    Der Schauspieler Louis Hofmann im Studiogespräch.
    Der Schauspieler Louis Hofmann im Studiogespräch. (Deutschlandradio / Ellen Wilke)