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Filmreihe "Orizzonti"
Brillante Verwirrung der Wahrnehmung

Ein Blick auf die Filmreihe "Orizzonti" bei der "71. Mostra Internazionale d'Arte Cinematografica" zeigt, dass einige Filme Realität und Fiktion gekonnt verquirlen. So gelingt dem französischen Regisseur Quentin Dupieux mit "Reality" eine gelungene Mischung aus Horror- und Science-Fiction, die den Zuschauer verwirrt zurücklässt.

Von Christoph Schmitz | 01.09.2014
    Die österreichische Regisseurin Veronika Franz und ihr Kollege Severin Fiala mit den Schauspielern Lukas und Elias Schwarz beim Fototermin für den Film "Ich Seh Ich Seh" bei den 71. Filmfestspielen von Venedig.
    Die österreichische Regisseurin Veronika Franz und ihr Kollege Severin Fiala beim Fototermin für den Film "Ich Seh Ich Seh". (AFP PHOTO / Tiziana Fabi)
    Filme bilden nie die Realität ab. Das gilt für jede Kunst. Die Kunst schafft sich ihre eigene Wirklichkeit. Das vergisst der Kinozuschauer schnell und ist dann überrascht, wenn ein Film ihm seine Eigengesetzlichkeit präsentiert. In den Sektionen außerhalb des Wettbewerbs haben einige Beiträge dies unternommen, so "Reality" des Franzosen Quentin Dupieux.
    Dupieux erzählt mehrere Geschichten parallel. Alternierend hat er ihren Fortlauf geschickt ineinandergeflochten. Da gibt es unter anderem einen Kameramann. Der will einen Horror- und Science-Fiction-Film drehen. Dafür versucht er einen Produzenten zu gewinnen. Da gibt es ein Mädchen, das seinen Vater beim Ausweiden eines Wildschweins beobachtet, wobei zwischen den Innereien eine Videokassette zum Vorschein kommt. Das Kind fischt die Kassette aus dem Mülleimer, sieht sie sich gegen Ende des Films an und wird dabei per Videokamera beobachtet, wie sie genau den Horrorfilm sieht, den der Kameramann eigentlich erst drehen wollte. Am Ende weiß man überhaupt nicht mehr, was wirklich ist und was nicht. Die Orientierung geht vollkommen verloren. Eine brillante Verwirrung der Wahrnehmung ist dem Regisseur hier gelungen. Er rüttelt auch an den Gewohnheiten unseres sensualistischen Realitätssinns.
    Verwirrspiel in Venedig
    Ein ähnliches Verwirrspiel treibt das Regie-Duo Veronika Franz und Severin Fiala aus Österreich. "Ich sehe Ich sehe" heißt ihre Arbeit. Es ist die Geschichte zweier zehnjähriger Jungs. Sie sind Zwillinge und allein zu Haus. Sie streunen in den Sommerferien über die Felder und durch die Wälder rund um das alleingelegene Elternhaus, eine moderne Landvilla mit viel Glas, die luxuriös ausgestattet ist. Gefährlich wirken die Ausflüge der beiden Kinder. Als die frisch geschiedene Mutter von einer Schönheitsoperation am Gesicht wieder zurückkommt und strenger zu ihnen ist, als die Zwillinge es gewohnt sind, zweifeln sie mehr und mehr, ob es sich tatsächlich um ihre richtige Mutter handelt. Sie spionieren ihr nach, fesseln und quälen sie irgendwann, um die Wahrheit aus ihr herauszupressen. Aber passiert das alles wirklich? Sind das nicht Bilder eines schlimmen Traums? Die Regisseurin Veronica Franz:
    "Der Film legt falsche Fährten. Ob die Mutter mit ihren Gesichtsverbänden tatsächlich wie eine Mumie herumläuft, ist bald nicht mehr klar. Ob da wirklich Zwillinge ihr gruseliges Werk vollziehen - es wird fraglich. So entwickelt sich diese Geschichte im Gewand eines spannenden Horrorthrillers zur Metapher über das komplizierte Beziehungsgeflecht namens Familie, über Sehnsüchte und Verletzungen."
    Schlichtes und gewagtes Kino gleichermaßen
    Handfester als ihre österreichischen und französischen Kollegen gehen die italienischen Filmemacher mit ihren Figuren um. Sie betreiben traditionelles Storytelling. Sie scheinen sich in diesem Jahr besonders an einer von mafiösen Strukturen unterwanderten Gesellschaft abzuarbeiten. Es ist als wollten sie die Fesseln lösen und die Zwänge Jahrhunderte alter Verhaltensweisen abstreifen. Wie etwa der bullige Mimmo in "Ohne Erbarmen" von Michele Alhaique.
    Mimmo hat keine Lust mehr, den säumigen Schuldnern im Auftrag seines Onkels die Knochen zu brechen. Vor dem Schlafengehen bekreuzigt er sich artig und versucht am nächsten Tag die neue Hure seines Cousins aus den Fängen des Clans zu befreien. Mit starken Hell-Dunkel-Kontrasten und lupengroßen Nahaufnahmen ist das markant gestaltet und doch recht konventionell und nicht selten schnulzig. Aber damit befindet sich Michele Alhaique bei seinen italienischen Kollegen in guter Gesellschaft. Schlichtes und gewagtes Kino finden in Venedig gleichermaßen auf die Leinwand.