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Filmstart "Heimatland"
Wenn die Schweiz untergeht ...

Kaum ein Land in Europa gilt als so reich, aber auch so abgeschottet wie die Schweiz, kaum ein Volk als so zurückhaltend. Wie reagieren solche Menschen, wenn sie plötzlich vor der Vernichtung ihrer Existenz stehen? Dies fragten sich zehn Schweizer Nachwuchs-Filmemacher und wagen in einem Katastrophenfilm eine spannende Analyse ihres Heimatlands.

Von Marco Müller | 28.07.2016
    Die zehn Regisseurinnen und Regisseure des Schweizer Films "Heimatland" beim Fototermin am 10.8.2015 während des Internationalen Film Festivals in Locarno: Michael Krummenacher, Jan Gassmann, Mike Scheiwiller, Tobias Noelle, Carmen Jaquier, Benny Jaberg, (hinten, v.l.n.r) Lisa Blatter, Gregor Frei, Lionel Rupp, Jonas Meier (vorne, v.l.n.r)
    Das Filmemacher-Kollektiv des Schweizer Films "Heimatland" (picture alliance / dpa / Urs Flueeler)
    "Du, was is met de inner Schwyzer los? Schon wieder a Vollmond?"
    "Der ist erst nächste Woche."
    "Fön?"
    "Irgendetwas isch komisch."
    Irgendetwas ist tatsächlich anders an diesem Morgen zu Beginn von "Heimatland": Büroangestellte einer Schweizer Versicherung können sich vor lauter eingehenden Anrufen kaum einen Kaffee holen. Eine Wolke, die sich in den Bergen gebildet hat, verdüstert allmählich den Schweizer Himmel - und in den Chefetagen die Gewinnprognosen:
    "Die Wolke draußen – dasch is nur er Anfang. Herr Schulz..."
    "Unsere Berechnungen sind alarmierend. Diese Wolke breitet sich rapide aus. Wir erwarteten, dass die Wolke sich schlussendlich in einem gewaltigen Sturm entladen wird.
    "Und jetzt auf gut Dütsch: Im Extremfall bringt der Sturm d'Versicherungsbranche in den Ruin."
    "Heimatland" ist ein Heimatfilm der anderen Art: Zehn junge Schweizer Filmemacher erzählen darin in neun Geschichten vom Untergang ihres Landes - und wagen dabei einen Blick in seine Seele. Zehn sind es, weil neun Geschichten dramaturgische Leitung brauchen, um zu einem Film zu werden: den Regisseur Michael Krummenacher. Die Wolke ist für ihn der Katalysator, um zu beobachten, was die sonst so reservierten Mitteleuropäer im Angesicht der näher rückenden Katastrophe von sich offenbaren.
    Nicht als Einzelkämpfer, sondern als Gemeinschaft etwas zustande bringen
    "Ich glaube, der drohende Sturm oder die Wolke, die über den Figuren schwebt, dient auch als eine Art Brennglas: Zwischenmenschliche Beziehungen werden verschärft, das Land, die gewohnte Ordnung bricht nach und nach auseinander - das ist eine Art Apokalypse, die über die Schweiz hereinbricht."
    So wird im Film schnell deutlich, ob für die Figuren gilt: alle gemeinsam - oder jeder für sich. Und fast immer erzählen die Geschichten dann von Menschen, die durch tief sitzende Ängste in lähmende Isolation getrieben werden, wie zum Beispiel eine einsame Polizistin, die einmal einen Schwarzen nicht in Notwehr, sondern aus Fremdenangst getötet hat und sich keinem mehr anvertrauen kann. Die Filmemacher wollten sich dagegen mit ihrem Film selbst beweisen, dass sie nicht als Einzelkämpfer, sondern als Gemeinschaft etwas zustande bringen können - kein leichtes Unterfangen, erinnert sich Michael Krummenacher, der mit Jan Gassman das Projekt vor sechs Jahren initiierte.
    Düsterer Look und Endzeitstimmung
    "Heimatland zu machen war ungefähr so, wie wenn man versuchen würde, in der Wüste ein Iglu zu bauen. Natürlich, jetzt einfach nur zu sagen, wir machen einen Film über die Schweiz und jeder erzählt dann ein bisschen davon, das reicht nicht. Das hieß, wir trafen uns zu unterschiedlichen Stadien in einer Alphütte, von der niemand weglaufen konnte, weil die letzte Bahn schon gefahren war."
    Auch deshalb merkt man dem Film nicht an, dass er von 10 Regisseuren stammt, die darin mit einer Stimme sprechen. Geschickt ineinander verschränkt und in einem düsteren Look vereint, beschwören ihre Geschichten eine Endzeitstimmung herauf, hinter der auch eine gemeinsame Haltung gegen die Schweizer Abschottungspolitik durchscheint. Aus Angst vor plünderbereiten Ausländern formiert sich zum Beispiel in einer Dorfwirtschaft eine Bürgerwehr, während in der Stadt auf einer düsteren Untergangsparty bereits die Flagge mit dem Schweizerkreuz in Flammen aufgeht.
    "Es gat uns guat! Wir müsse bewahre, was wir immer muss lieve!"
    " Ja!"
    Abschottung und Isolation sind Teil des Problems
    "Heimatland" wird in seinem Verlauf zu einem Film, der für das ansonsten eher seichte Filmland Schweiz radikal wirkt - und sein politisches Statement lieber deutlich macht, anstatt am Ende gar nichts auszusagen, zum Beispiel als Jean Ziegler vor dem Sturm in einer Fernsehansprache an die Millionen Juden erinnert, die einmal an den Schweizer Grenzen zurückgewiesen wurden, während eben an dieser Grenze, wo die Wolke endet, die Schweizer vor der ersehnten Ausreise eine Überraschung erleben.
    "An alle Schweizer Staatsbürger: Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit! Die Europäische Union hat beschlossen, mit sofortiger Wirkung keine Schweizer Staatsbürger mehr aufzunehmen. Bitte verlassen Sie unverzüglich die Grenzzone."
    Nicht ohne schwarzen Humor gelingt es dem Regie-Kollektiv in seinem sehenswerten Genre-Experiment am Ende die Rollen zu verkehren und Schweizer zu Flüchtlingen zu machen. Mutig formuliert der Film dabei eine politische Botschaft, die in unsere Zeit passt und zugleich auch eine Hoffnung ist: Nämlich, dass Abschottung und Isolation nicht Teil einer Lösung, sondern Teil eines Problems sind, das - im schlimmsten Fall - zum eigenen Untergang führt.