Dienstag, 16. April 2024

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Filmstart: "Utøya, 22. Juli"
"Wir dürfen nicht vergessen"

Der Filmemacher Erik Poppe hat den Massenmord 2011 auf der norwegischen Insel Utøya in Echtzeit in seinem neuen Film nachgestellt. Es sei ein wichtiger Teil der norwegischen Geschichte, der nicht verloren gehen dürfe, sagte Laiendarstellerin Andrea Berntzen im Dlf.

Andrea Berntzen im Corsogespräch mit Sigrid Fischer | 20.09.2018
    Andrea Berntzen als Kaja im norwegischen Film "Utøya, 22. Juli"
    Laiendarstellerin Andrea Berntzen im Film "Utøya, 22. Juli" (weltkino filmverleih)
    Mehr polarisieren kann ein Film wohl nicht: die einen finden es voyeuristisch und obszön, die anderen absolut angemessen, was der Norweger Erik Poppe in "Utøya, 22. Juli" zeigt: nämlich die 72 Minuten des Schreckens, des Horrors und der Tragödie, die der Massenmörder Anders Behring Breivik an Jugendlichen auf der norwegischen Insel im Sommer 2011 angerichtet hat, in Echtzeit nach zu inszenieren. Ohne Schnitt, ohne Musik, mit Laiendarstellern und als Fiktion, die die Essenz des Geschehens zusammenfasst. 77 Tote waren an jenem 22. Juli zu beklagen, in Oslo und auf Utøya. Schon auf der Berlinale, wo der Film im Wettbewerb lief, waren die Reaktionen sehr gespalten. Die 19jährige Andrea Berntzen spielt die Hauptfigur Kaja.
    Sigrid Fischer Andrea, das Filmplakat zeigt Ihr Gesicht und darunter steht der Titel: "Utøya 22 Juli". D.h. Ihr Gesicht verbindet sich direkt mit dieser Tragödie, ist das nicht ziemlich verstörend für Sie?
    Andrea Berntzen Ich wurde auch schon gefragt, wie sich das anfühlt, das Gesicht von "Utøya" zu sein. Der Gedanke ist schon verrückt. Einerseits ist es toll, dass Utøya ein Gesicht hat, denn die Überlebenden, mit denen ich gesprochen habe, sagen, es sei schwer für sie, ihre Geschichte zu erzählen. Weil sie das nur aus einer Distanz heraus könnten, so würde das keiner richtig verstehen. Und viele der Betroffenen wollen gar nicht über das Massaker reden, das sie an dem Tag erlebt haben. Deshalb ist es gut, dass Utøya ein Gesicht hat, weil es die Opfer vielleicht öffnet zu reden. Und es nicht so ein Tabu bleibt. Gleichzeitig finde ich aber auch, dass nicht ich das Gesicht von Utøya sein sollte. Denn ich war ja nicht auf der Insel an jenem Tag, ich bin nicht um mein Leben gerannt. Nur die, die das Massaker erlebt haben, wissen, wie sich das angefühlt hat. Ich kann das nur so rekonstruieren, wie ich denke, dass es war. Aber völlig nachvollziehen kann ich es nicht.
    Das Gespräch können Sie in der englischen Originalversion hier nachhören.
    "Ein realistischer Film"
    Fischer Sie führen den Zuschauer durch den Film, durch diesen Horror, Sie helfen anderen, ein Mädchen stirbt in Ihren Armen. Sie hatten erst Bedenken in "Utøya, 22. Juli" mitzuspielen, haben es schließlich aber doch gemacht, was hat Sie überzeugt?
    Berntzen Ich fand es unfair, dass der Mann hinter der Tat mehr im Fokus steht als die, die am meisten Aufmerksamkeit und Unterstützung brauchen. Aber meine Hauptsorge war nicht, dass es einen Film darüber geben würde, sondern wie er gemacht sein würde. Es gibt 1000 Arten, diesen Film zu drehen, z.B. auf die Hollywood-Art - spannend, auf Hochglanz und teuer. Ich hatte Sorge, dass der Film so werden würde, wie es in Wirklichkeit nicht war. Aber Erik wollte ja einen realistischen Film machen, in dem das Publikum eine Erfahrung macht. Ich hatte den Eindruck, der Film würde nach ethischen Kriterien gedreht.
    Fischer Sie waren erst 12, als Utøya passiert ist vor 7 Jahren, und Ihre Freunde also auch. Ist dieses Ereignis in ihrer Generation eigentlich Thema, also ist das immer da oder nur durch z.B. diesen Film?
    "Ein Teil der norwegischen Geschichte"
    Berntzen Ganz ehrlich, das ist der Hauptgrund, warum ich froh bin, dass es diesen Film gibt. Meine Freunde und ich, das muss ich zugeben, hätten das alles fast schon wieder vergessen. Oder mein kleiner Bruder, der ist jetzt 9, der weiß nur wegen des Films, dass da ein Mann auf der Insel war und Teenager wie mich erschossen hat. Wenn ich da nicht mitgespielt hätte, hätten wir ihm vielleicht gar nicht davon erzählt. Weil es so brutal ist. Deshalb war es wichtig, diesen Film zu drehen: Wir dürfen nicht vergessen. Die Menschen dürfen nicht umsonst gestorben sein. Das ist ein wichtiger Teil der norwegischen Geschichte, der darf nicht verloren gehen.
    Fischer Auch wenn Sie erst 12 Jahre alt waren, erinnern Sie sich noch an den 22. Juli 2011?
    Sind wir im Krieg?
    Berntzen Wir waren auf dem Rückweg von unserer Blockhütte in Südnorwegen, und waren kurz vor Oslo, als wir von der Bombe im Radio hörten. Vielleicht ist das in Ihrem Land auch so: wenn die Eltern nicht wollen, dass die Kinder mitkriegen, worüber sie reden, wählen sie eine andere Sprache. Ich fing gerade an, englisch zu lernen, also haben sie deutsch gesprochen. Dann weiß man, es ist ernst. Ich hatte große Angst, denn ich hatte immer viel Phantasie, ich habe gefragt, ob wir im Krieg sind? Ich hab mir sowas wie Hiroshima vorgestellt, dass die ganze Stadt brennt. Von Utøya war ja erst noch kaum die Rede, erst am nächsten Morgen hat Norwegen verstanden, dass wir angegriffen wurden, und dass beides lange geplant war. Und 77 Menschen gestorben sind.
    Durch diesen Film habe ich einen neuen Blick auf das Massaker bekommen. Damals hab ich das noch gar nicht verstanden. Und bis heute ist es eine gruselige Vorstellung. Wenn man zu lange drüber nachdenkt, macht einen das verrückt.
    Fischer Es ist nicht neu, dass Jugendliche von falschen Ideen verführt werden, vom IS z.B., oder von rechts wie Breivik, oder von links wie die RAF früher. Junge Leute wählen manchmal den falschen Weg, auf der Suche nach etwas, was denken Sie als 19Jährige darüber?
    Berntzen Wir haben als Gesellschaft eine Verantwortung, und ich denke, für Leute, die so etwas tun, ist es ein letzter Aufschrei, weil sie außerhalb der Gesellschaft leben und etwas Drastisches tun müssen, um gehört zu werden. Wir müssen an die Wurzel des Problems kommen, indem wir uns mit ihnen hinsetzen und reden, bevor es soweit kommt. Diese Verantwortung haben wir. Das ist auch die Hoffnung im Film, wir müssen die Außenseiter mit einbeziehen.
    Fischer Utøya, 22. Juli ist Ihr erster Film, und Sie haben schon oft gehört, wie toll Sie das machen. Wollen Sie weiter Filme drehen?
    Kein Grund zu jubeln
    Berntzen Na klar. Das ist natürlich ein sehr spezieller Film und vielleicht wird er der Höhepunkt meiner Karriere sein, danach geht es bergab. Aber wer weiß, vielleicht entwickele ich mich auch noch. Ich will es auf jeden Fall ausprobieren.
    Aber es fühlt sich auch irgendwie schizophren an. Lieber würde ich mit den anderen zu einem Film auf dem roten Teppich stehen, bei dem wir sagen könnten:
    'Yeah, we made it! I’m so proud of you, I’m proud of me, I’m proud of everyone!!'
    Aber das geht nicht, schon, weil es nicht unsere Geschichte ist. Wir versuchen nur, sie zu rekonstruieren. Und es ist eine tragische Geschichte - über Jugendliche wie wir, die umgebracht wurden. Da gibt es nichts zu jubeln. Trotzdem bin ich stolz auf den Film und die Darsteller.