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Filmtheorie
Ein Philosoph im Kino

Kino und Philosophie: Zwei völlig verschiedene Welten - könnte man meinen. Der Frankfurter Philosoph Martin Seel kommt jedoch zu einem anderen Ergebnis. In seinem Buch "Die Künste des Kinos" hat er in über 100 Filmen nach dem gesucht, was das Spezifische des Films ausmacht und nach dem, was der Philosophie fehlt.

Von Thomas Kleinspehn |
    Blick in den großen Saal im Kino Zoo Palast in Berlin.
    Martin Seel: Der Film kann die Leerstellen der Philosophie ausfüllen. (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Der Philosoph geht ins Kino. Dort sieht er unter anderem Michael Hanekes "Caché" mit Daniel Auteuil und Juliette Binoche. Es ist einer dieser Filme, die den Zuschauer hineinziehen und ihn gleichzeitig rätseln lassen.
    Die Hauptfigur in Hanekes Film, der Fernsehmoderator Georges, bekommt anonyme Videofilme von seinem Wohnhaus zugesandt, die nach und nach seine eigenen Bilder und die von seinem Leben zersetzen. Die Positionen von Film und Zuschauer bleiben bis zum Schluss unklar, provozieren jedoch dadurch Fragen nach den Unterschieden zwischen subjektiven und objektiven Bildern.
    Diese filmische Welt, die mehr ist als eine Illusion, hat den Philosophen Martin Seel angezogen. In seinem Buch "Die Künste des Kinos" hat er in über 100 Filmen verschiedenster Genres nach dem gesucht, was das Spezifische des Films ausmacht, und noch mehr nach dem, was der Philosophie fehlt. Denn es geht auch um das Verhältnis von Ratio und Emotion.
    "Wo ich die Differenz, die Spannung zwischen Film und Philosophie behandle, da vertrete ich die These, dass der Film so eine Art ästhetische Anthropologie entwickelt, aber anders als die philosophische Anthropologie, also die philosophische Lehre vom Menschen, von der grundsätzlichen Stellung des Menschen in der Welt oder von dem In-der-Welt-Sein, wie Heidegger sagt, davon handelt auch das Kino, aber auf eine andere Weise, indem es künstliche, fiktionale Landschaften entwirft, die uns Lebensmöglichkeiten vor Augen führen und zugleich uns die Gelegenheit geben, unsere Reaktionen auf uns selbst und die Welt auf eine exzeptionelle Weise geradezu auszuleben und im Vorwort steht auch, das Kino eröffnet uns die Möglichkeit, die Schwankungen des Lebens in einer Weise auszukosten, wie wir es im realen Leben nicht können."
    Das Kino, könnte man im Sinne von Seel sagen, füllt die Leerstelle der Philosophie. In seinem anregenden schmalen Band sucht der Frankfurter Philosoph nach dem Wesen und vor allem dem Besonderen des Films. In neun differenzierten Kapiteln spürt er die Wurzeln des Kinos in anderen Künsten auf: der Architektur, der Musik, der bildenden Kunst, dem Theater, der Literatur und so weiter.
    Der Film nehme, sagt Seel, Elemente all dieser Künste auf und entwickle aus ihnen im eigentlichen Ort des Films, dem Kino, ein ganz eigenes Potenzial. Filme wie Hitchcocks "Der unsichtbare Dritte" oder Antonionis "Zabriskie Point" sprengten die Grenzen des Raums und zögen den Zuschauer über alle Sinne in ihn hinein.
    Der Film begeisterte Philosoph beschreibt den filmischen Raum als sehr viel ambivalenter und fragiler als jeden anderen Raum unseres Alltags. Denn als imaginierter Raum stelle er sich über Bilder, Farben, Klang und Perspektiven her, sei aber geschlossen und offen zugleich. Geschlossen ist er als filmische Erzählung, die sich unweigerlich über den Zuschauer ausbreitet. Gleichzeitig ist er aber offen, weil der Betrachter die filmischen Bilder schließlich in seinen Imaginationen verformt und verbindet mit seinen eigenen Phantasmen.
    "Das Buch handelt von der Ur-Szene des Kinofilms, nämlich, dem Kino als einem speziellen Ort der Wahrnehmung von Filmen. Heute hat dieser Ort natürlich eine gehörige Konkurrenz bekommen durch die vielfältigen Abspielmöglichkeiten filmischer Bilder. Ich meine, dass es sich lohnt, noch einmal über diese Ur-Szene des Wahrnehmens von Spielfilmen im Kino nachzudenken. Denn nur wenn man ein klares Verständnis dieser klassischen Situation des Erscheinens von Filmen hat, kann man verstehen, was ist anders bei den anderen Arten der Wahrnehmung von Filmen oder überhaupt filmischer Bilder."
    Und dieser "Ur-Szene" geht Seel sehr akribisch und theoretisch nach. Zwar begegnet man als Leser einer verwirrenden Vielfalt von Filmen, die man eigentlich, wenn man sie nicht kennt, anschauen müsste, um wirklich zu verstehen, worauf der Autor hinaus will.
    Wenn man sie allerdings kennt, bereitet es durchaus Vergnügen, den Ausflügen des Autors in philosophische Höhen zu folgen. Hierfür holt er sich auch erfreulich unverfroren Anleihen nicht nur bei klassischen Filmtheoretikern wie Bazin und Kracauer oder modernen Medientheorien zum Beispiel von Angela Keppler, sondern genauso bei Kant und Hegel, ohne dabei in Medieneuphorie oder in den herrschenden Kulturpessimismus unserer Tage zu verfallen.
    "Ich mache gar keine Verlust-Diagnose, sondern ich möchte eine einheitliche Theorie der künstlerischen Kraft des Kinos entwickeln. Das ist insofern selten, als die meisten philosophischen oder filmwissenschaftlichen Filmtheorien sich an – in meinen Augen – zu engen Paradigmen orientieren."
    Damit sind jene Studien gemeint, die sich etwa nur mit dem Hollywood-Film, dem Autorenkino oder dem frühen Stummfilm befassen. Martin Seel will mehr und gleichzeitig weniger. In seiner "einheitlichen Theorie" beschreibt er den Film im Kino als das eigentliche Gesamtkunstwerk. Er produziere nicht nur mit Musik unterlegte Bilder oder Räume, in denen wir uns selbstständig bewegen können. Im Film kämen vielmehr Raum, Klang und Bild zusammen.
    Der Zuschauer ist in ihnen gefangen. Er kann, zumindest im Kino, nicht bestimmen, wie lange er an einer Stelle bleibt. Seel fragt hier jedoch nicht, ob das nicht zumindest teilweise auch für das Theater gelten könnte.
    Ihm geht es um etwas anderes: Er meint, dass der Film als Synthese verschiedener Künste sehr viel mehr kann, als eine Illusion zu schaffen. Deswegen wendet er sich im zweiten Teil des Buches entschieden gegen Theorien, die schon in den 80er-Jahren im angelsächsischen Raum, den Film darauf reduzieren wollten, er schaffe hauptsächlich Illusionen. Das sei nur ein Teil der filmischen Wirkung. Als Zuschauer würden wir auch auf die Darstellung und die Ästhetik achten.
    "Wenn wir einen Film intensiv wahrnehmen, können wir, ohne dass das unser Mitgehen und die Intensität unseres Erlebens im Geringsten beeinträchtigt würde, auf die Art der Inszenierung achten und nur wenn wir das tun, kriegen wir alles mit, was ein starker Film zu vermitteln vermag. Und der Illusionist muss sagen, wenn wir einen Film intensiv erfahren, ist es so als ob, das jetzt real wäre. Das nenne ich Darstellungsvergessenheit des Kinos."
    Das Besondere an Seels Buch ist, dass er der "Darstellungsästhetik", wie er das nennt, breiten Raum gibt. Die Schaffung einer Illusion und die Darstellung zusammen machten erst einen Film aus. Beides formt gemeinsam die Imaginationen des Zuschauers, der seine je eigenen Fantasien mitbringt. Diese wesentlich über die Ästhetik geformte Wechselwirkung hat vor Seel niemand so deutlich präzisiert.
    Hier zahlt sich sein Rückgriff auf die Medientheorie aus. Man muss sich allerdings fragen, ob das nicht letztlich ein Blick in längst vergangene Zeiten ist. Denn streng genommen gilt Seels ästhetische Theorie nur für den Film im Kino. Denn schon die Pausen- oder Wiederholungstaste des Computers verändert die Wahrnehmung und den Sog eines Films grundlegend.
    Martin Seel: "Die Künste des Kinos", Frankfurt, S. Fischer Verlag, 2013, 22,99 Euro.