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Finaler Rhythmus

Unser Leben wird immer schneller, als würde uns ein Taktstock treiben. Mit daran Schuld sind Maschinen, die uns takten. Immer mehr Forscher beschäftigen sich mit dieser Beschleunigung - und dies sind keine Esoteriker, sondern Naturwissenschaftler.

Von Maximilian Schönherr | 21.12.2012
    Beim Nachdenken über die Beschleunigung beliebiger Systeme, kommt sofort die Frage auf: Wie schnell dürfen sie werden, ohne zusammenzubrechen? Und wie kann man dem Kollaps vorbeugen? Beim System Telefon ist dieses Problem lange bekannt – und relativ gut gelöst.

    Jörg Eberspächer, Netzwerkexperte, TU München:

    "Das berühmte Problem an Silvester. Wenn ein so komplexes System zu viel Last bekommt, wirft es die Last ab, und beim Telefon merkt man das an der Blockade. Das hat man dort eigentlich ganz definiert gemacht, um die Systeme zu entlasten."

    Ganz früher warf das Fräulein vom Amt diese Last ab, heute registriert jede Vermittlungsmaschine ein Lastmaß.

    "Ganz ähnlich wie beim Internet: Dort hat man als Vermittlungsrechner die Router, und wenn die zu viel Last bekommen, dann lassen sie keine weiteren Datenpakete mehr in ihre Warteschlangen, also in ihre Pufferspeicher rein. Dann merkt der Kunde natürlich auch, dass etwas abgeworfen wird. Aber das ganze Gesamtsystem bricht deswegen nicht zusammen."

    Die Mathematik dahinter heißt Warteschlangen- oder Queuingtheorie. Sie gehört in den Bereich der Stochastik und macht Vorhersagen über den Zustand von Systemen in der Zukunft.

    Erfolgskonzepte wie etwa die Mobiltelefonie, das Automobil oder das Internet neigen dazu, immer komplexer zu werden. Auch diese Komplexität neigt zum Übertakten und zum Kollaps in sich. Wir sehen das am Stau, wir sehen es aber auch bei den Verspätungen von Zügen, wir sehen es, wenn überhaupt nichts mehr geht.

    Was die Bahn noch nicht tut, haben viele Fluglinien hinter sich: Sie haben inzwischen gelernt, dass die immer härtere Taktung ihnen Verspätungen und einen schlechten Ruf einbrachte. Und diese Verspätungen waren keine Ausnahmen, sondern sie gehörten zum Prinzip. Die Fluggesellschaften entzerrten vor einigen Jahren ihre Fahrpläne, räumten Pufferzeiten ein. Die Bahn würde, so ihr Fahrplanchef, nie von der Einstundentaktung der Langstreckenzüge abweichen – auch wenn statt einer 60- eine 70-Minuten-Taktung dem "Betriebsablauf" gut täte.

    Entzerrung und der Einbau von zeitlichen Puffern spielen auch in der Ergonomie eine immer wichtigere Rolle. Für die Entwickler von Mensch-Maschinen-Schnittstellen gilt das Paradigma "User Paced" – der Mensch gibt den Schritt, den pace vor, nicht die Maschine (Machine paced). Beispiel: Flugzeugcockpit. Klaus Bengler, Leiter des Lehrstuhls für Ergonomie an der Technischen Universität München.

    "Ein wichtiger Grundsatz der Gestaltung des Flugzeugcockpits, also des Arbeitsplatzes des Piloten, ist "Dark and Silent". Kommt es zu kritischen Stellen, zu Warnungen, zu Informationen – erst dann dürfen Lämpchen und Taster anfangen zu blinken, also die Aufmerksamkeit des Piloten anziehen. Das heißt: Warnung wird ausgegeben, Taste fängt an zu blinken, und es ist nun am Piloten, zu entscheiden, wann die Taste gedrückt, die Warnung quittiert wird, und wie das weitere Vorgehen ist. Ansonsten liegt die Taktung beim Piloten – im Gegensatz zu vielen anderen Systemen."

    10. April 2010. Ein kleines Passagierflugzeug. An Bord polnische Politiker, auch der polnische Präsident Lech Kaczynski. Wir sind kurz vor dem Anflug auf Smolensk, der Flughafen liegt im Nebel, und wir hören den Sprechfunkverkehr zwischen Cockpit und Kontrollturm.

    Dem Piloten fehlt das, was für die Schnittstelle Mensch/Maschine so wichtig ist: das User Pacing; dass er den Takt vorgibt. Stattdessen hören wir Stimmen im Cockpit, die nicht ins Cockpit gehören und die sich einmischen. Vermutlich ist auch Kaczynski da, man drängt den Piloten, trotz der widrigen Bedingungen zu landen. Wenige Sekunden später stürzt die Maschine im Nebel in einem Wald bei Smolensk ab.