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Finanzwissenschaftler: Im Vorfeld wurde vorsichtig gerechnet

Das Bundesfinanzministerium gab bekannt, dass Bund, Länder und Gemeinden bis 2016 mit 29,4 Milliarden Euro zusätzlicher Steuereinnahmen rechnen können. Für den Finanzwissenschaftler Manfred J. M. Neumann hängt das vor allem damit zusammen, dass die Bundesregierung zum Ziel hatte immer vorsichtig zu rechnen.

Manfred J. M. Neumann im Gespräch mit Birgid Becker | 10.05.2012
    Birgid Becker: Außerdem im Programm die neu entdeckte Harmonie zwischen Sparen und Wachsen, die im Lichte der Euro-Krise nun auch die deutsche Bundeskanzlerin beschwört. Angela Merkel heute Früh bei ihrer Regierungserklärung im Bundestag:

    O-Ton Angela Merkel: "Der Abbau der Verschuldung und die Stärkung von Wachstum und Beschäftigung, das sind die beiden Säulen der Strategie, mit der die europäischen Staats- und Regierungschefs, die europäischen Institutionen und der Internationale Währungsfonds die Staatsschuldenkrise in Europa überwinden."

    Becker: Wie streng der Sparkurs bleiben muss, was an Investitionen möglich ist, das wird nun auch neu justiert werden im Licht jener knapp 30 Milliarden Euro, um die die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden in den kommenden vier Jahren über Plan liegen sollen. Die Zahl nannten heute die Steuerschätzer, die Bewertung folgte dann auf dem Fuß vom Bundesfinanzminister. Mitgehört hat der Finanzwissenschaftler Manfred Neumann, emeritierter Professor an der Uni Bonn. Guten Tag.

    Manfred J. M. Neumann: Guten Tag.

    Becker: Die Zahlen, so sagte es der Bundesfinanzminister, bestätigen den Kurs der Bundesregierung. Natürlich, wer würde das nicht sagen, wenn ihm gerade Überschüsse bestätigt worden sind. Stimmt das denn, ist das denn so?

    Neumann: Die Überschüsse sind in den letzten Jahren immer bestätigt worden. Wir haben immer Überschüsse gehabt. Das ist immer eine Frage, wie vorsichtig man rechnet, verstehen Sie. Wenn man von vornherein annimmt, dass das Wachstum geringer sein wird, als es nachher ausfällt, hat man natürlich nachher einen Überschuss. Also das ist eine Frage der Vorsicht, und die Bundesregierung hatte sich zum Ziel gemacht, schon seit der Großen Koalition, immer jetzt vorsichtiger zu rechnen. Daher haben sie immer Überschüsse. Das ist natürlich finanzpolitisch günstig, weil dann kann man sagen, jetzt verwenden wir es für dies und das. Wie man es verwenden soll, da gibt es im Grunde genommen tatsächlich zwei Dinge. Das eine möchte ich sagen, ist schon richtig: Wenn wir die Staatsverschuldung verringern können, dann sollten wir die Gelegenheit nutzen. Nur auf der anderen Seite muss man sich auch noch mal überlegen, ob man nicht doch wirklich an die kalte Progression mal herangeht, die ja auch dem normalen Facharbeiter das Geld aus der Tasche zieht, und da macht die Bundesregierung zwar einen kleinen Ansatz, aber das entspricht eigentlich nicht dem, was tatsächlich nötig wäre.

    Becker: Und so teuer wäre das ja nicht einmal, oder?

    Neumann: Na ja. Das Kieler Weltwirtschaftsinstitut, das Forschungsinstitut, hat geschätzt, dass bis 2014 der Kalte-Progressions-Effekt nach diesen Zahlen ungefähr 25 Milliarden Euro betragen würde, und die Entlastungen, die sich zusätzlich ergeben, jetzt aufgrund der neuen Steuerschätzung, sind 29 Milliarden. Also Sie sehen: Im Wesentlichen ist das eigentlich Kalte-Progressions-Effekt, und den sollte man eigentlich denen zurückgeben, die den hier aufgebracht haben oder aufbringen werden.

    Becker: Und kalte Progression kurz erklärt: Das sind quasi automatische Steuermehreinnahmen.

    Neumann: Ja, das sind automatische Steuereinnahmen, die dadurch entstehen, dass es eine Inflation gibt, Inflationsrate gibt von mehr als zwei Prozent, und die hebt dann bei vielen Steuerpflichtigen den durchschnittlichen Steuersatz an, und das ist der Effekt, den man eigentlich nicht haben sollte, weil das ist, eine versteckte Steuererhöhung.

    Becker: Der Bundesbankpräsident Jens Weidmann hat ja der Bundesregierung bereits vorgeworfen, dass deren Haushaltspläne für die Jahre 2013 bis 2016 wenig ambitioniert seien, und der Bund möchte ja in der Tat seinen Haushalt 2016 ausgleichen, dann also, wenn die Schuldenbremse wirkt. Diese Steuerschätzung genommen, die Zahlen darin, wäre da tatsächlich nicht mehr an Haushaltskonsolidierung drin?

    Neumann: Es wäre nicht nur bis 2016 mehr drin, es wäre auch schon in den letzten Jahren mehr drin gewesen, wenn man das halt gewünscht hätte. Das ist ja immer eine Frage des politischen Willens. Und wir haben gesehen, wenn wir mal zurückgehen, noch ein paar Jahre zurückdenken, zum Beispiel an die Große Koalition, 2006/2007, das waren hervorragende Jahre und trotzdem hat man nicht dafür gesorgt, dass die Neuverschuldung auf null gebracht wurde. Und jetzt haben wir im Grunde genommen einen ähnlichen Effekt, denn im letzten Jahr, also 2011, hatten wir ja ein Boomjahr mit drei Prozent Wirtschaftswachstum, und das ist so, dass sich das in den Steueraufkommen immer so etwas zeitverzögert auswirkt, also insbesondere auch 2012 noch auswirkt, und das hätte man eigentlich jetzt berücksichtigen können. Wir könnten in diesem Jahr einen großen Überschuss eigentlich im Haushalt haben.

    Becker: Auf der anderen Seite gibt es ja auch durchaus Zwänge, die eventuell höhere Ausgaben notwendig machen. Wie zum Beispiel sieht es aus mit dem Recht auf einen Kitaplatz für unter dreijährige Kinder? Auf den soll es ja den Rechtsanspruch ab dem kommenden Jahr geben.

    Neumann: Ja, ja, das ist ja richtig. Nur die Frage ist, ich sehe das bei dem Kita-Rechtsanspruch so: Es ist eine Frage, ob man das Geld hat. Das Geld könnte man haben, aber die Plätze hat man nicht. Das ist, glaube ich, das Problem, dass man die hätte rechtzeitig einrichten müssen. Da ist eine Menge versäumt worden.

    Becker: Wenn man sich nun vielleicht nicht über die Höhe der vorhergesagten Einnahmen beschweren kann, dann kann man sich vielleicht aber doch über deren Verteilung beschweren. Wenn nun die Einnahmen auch für Städte und Gemeinden steigen, nimmt das den Druck, die Finanzen neu zu sortieren, also macht das die ewig verschobene Gemeindefinanzreform nun doch vielleicht verzichtbar?

    Neumann: Die Gemeinden, die werden ja zum Beispiel in diesem Jahr auch rund 500 Millionen mehr einnehmen. Die Gemeindefinanzen müssten im Grunde genommen etwas stärker saniert werden, aber das ist leider so, dass weder auf der Seite der schwarz-gelben Koalition, noch auf der Seite der rot-grünen Opposition, will ich mal sagen, es große Pläne gäbe, wirklich durchgreifend die Gemeindefinanzen zu sanieren, denn dann müsste man dort mal an die Steuern herangehen und gucken, wie ist denn das eigentlich, sind die so sinnvoll, wie sie im Moment sind. Denn wir haben es natürlich so, dass momentan das Steueraufkommen für die Gemeinden sehr von der Konjunktur abhängt, und das müsste man eigentlich etwas geglätteter haben. Die Gemeinden können nicht das Gleiche machen wie der Bund, dass immer sie vor schwankenden Steuereinnahmen stehen und dann ihre Ausgaben tendenziell daran anpassen sollen. Das ist eigentlich ein Unding.

    Becker: 29,4 Milliarden Euro Einnahmen über Plan in den kommenden vier Jahren, das ist die Prognose. Wie viel an neuer Kraft erwächst da Deutschland, um den kriselnden Südeuropäern beizustehen? Muss man vor dem Hintergrund der enormen guten deutschen Verfassung nicht noch einmal darüber nachdenken, was an europäischer Solidarität möglich ist?

    Neumann: Also ich glaube, jetzt wollen wir das nicht überbetonen, und zwar deswegen nicht, weil diese zusätzlichen Steuereinnahmen, die ja, so könnte man auch brutal sagen, einfach nur ein bisheriger Schätzfehler waren – wir haben bisher zu vorsichtig geschätzt, das sind ja keine zusätzlichen Einnahmen, sondern die Planung war nicht richtig -, die machen aus, wenn Sie es umlegen, nicht mehr als ein Prozent des Gesamtvolumens der Steuereinnahmen. Und ein Prozent mehr ist zwar schön, ist aber nicht so viel und das bedeutet nicht, dass wir deswegen eine sehr viel größere Steuerkraft hätten, um jetzt die europäische Lösung in dem Sinne voranzutreiben, dass wir, sagen wir mal, die Rettungsfonds vergrößern. Das sehe ich nicht.

    Becker: Manfred Neumann war das, Finanzwissenschaftler, emeritierter Professor an der Uni Bonn. Danke für das Gespräch.

    Neumann: Bitte.


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