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"Fingerspitzengefühl statt Ellenbogen"

Mit "Die Politisierung der Lust" legt Dagmar Herzog eine Untersuchung des gesellschaftlichen Umgangs mit Sexualität in Deutschland vor. Im Zentrum stehen der Nationalsozialismus sowie der Aufbruch von 1968. Selbst wenn manche Thesen notgedrungen spekulativ bleiben, ist das Buch ein bahnbrechendes Unterfangen.

von Eike Gebhardt | 08.12.2005
    "Es gibt keine unschuldige Sexualität ... Es ist immer so, dass Ideologie mit reinverwoben ist. Es ist nicht zu trennen von Politik."

    Dieser Satz, in Dagmar Herzogs Buch "Die Politisierung der Lust" oft variiert und belegt mit zahllosen Beispielen aus 100 Jahren deutscher Sexual- und Politikgeschichte, ist das Leitmotiv dieser über 400 Seiten starken Monografie - und ein Sprengsatz in einer Nische des Diskurses über die politische Vergangenheitsbewältigung. Dass alles Private auch politisch sei, galt als Gemeinplatz unter den 68ern. Dass unser Sexualleben nicht nur von Trieben, sondern auch von Normen, Moden, Ideologien überhaupt von externen Umständen abhänge, die bis in die Erlebnisformen hineinwirken, ist eine Einsicht, die die 68er zwar nicht entdeckten, wohl aber - das ist ihr historisches Verdienst - zum Gemeingut machten. Dagmar Herzog widmet daher das spannendste Kapitel der heute vielgeschmähten Generation, die sie weder pauschal verteidigt noch verurteilt, deren Ambivalenzen sie vielmehr mit Recht zum Leitmotiv ihrer Analyse macht.

    So betont sie, im Gegensatz zu den üblichen Jubiläumsakzenten nicht Sex, Drogen and Rock' n Roll sondern Sex und Politik: Dass Wilhelm Reichs Thesen von der unterdrückten Sexualität als einem psychohistorischen Grund für den Faschismus zum Beispiel, den Zeitgeist nicht nur der Studenten sondern aller Medien von Bild bis Spiegel, von der ARD bis zu Aufklärungs-Pornos beherrschten, ist nur noch den 68er Veteranen vertraut und sonst keinem. Die zwiespältige Haltung selbst der Nazis in Sachen Sex hatte Herzog schon in früheren Kapiteln detailliert vorgestellt. Durchaus nicht prinzipiell prüde, aber selbstverständlich ideologisch eingebunden: Trotz aller Polemik gegen die Sittenlosigkeit der Weimarer Republik war zum Beispiel nicht einmal vorehelicher Geschlechtsverkehr tabu, wenn dadurch die Rasse stärker wurde. Andererseits reichte ein Tropfen jüdischen Spermas um die arische Frau auf immer zu besudeln. Aber die Nazis wussten das Glücksversprechen der Sexualität sehr wohl zu nutzen
    Sogar der Ehebruch wurde zeitweilig nicht nur geduldet sondern sogar ermutigt, unter arischen Partnern, versteht sich. Zum Problem wurde dies erst, als immer mehr Männer aus dem Krieg nicht mehr heimkehrten. Herzog hat es sich nicht einfach gemacht mit den scheinbar widersprüchlichen Quellen. Mit Recht aber betont sie:

    "Wenn ideologisch gegensätzliche Lager (z.B. Kirche und Schwarzes Korps) dasselbe sagen - nur anders bewerten - z.B. dass Sex im 3. Reich relativ locker war, dann ist es schon plausibel, dass es so war."

    Hierin nun besteht eine der großen Stärken des Buchs: Herzog widersteht der Versuchung, eine Generalerklärung, eine Einheitsmentalität, geschweige Einheitspraxis einer Epoche zu suchen. Nicht nur weil in pluralen Gesellschaften unterschiedliche Positionen vorherrschen, sondern weil auch die Ideen scheinbar homogener Gruppierungen selber Widersprüche und Spannungen in sich tragen. Der Trick war, die Aspekte unterschiedlich zu "codieren", wie Herzog das nennt - also in jeweils andere Argumentkontexte zu setzen. So konnte die nackt dargestellten Arier Reinheit und Kraft ausstrahlen, während jüdische Körper geil und schmuddelig erschienen. Nicht die Haltung zum Sex generell lässt sich in der Nazi-Ideologie dingfest machen, sondern eben nur die Politisierung der Sexualität - Herzogs Thema.

    Dass solche Assoziationsautomatiken nicht nur den Zeitgeist, sondern auch die individuelle Psyche, ja die Genuss- und Erlebnisfähigkeit prägen, zeigt gerade der Übergang von denn 50er Jahren zu den 68ern. Die 50er waren durchaus gespalten in ihrer Meinung über Sex und Nationalsozialismus. Die 68 nicht mehr.

    Im Gegensatz zu den 68ern, die die Nazis ja für sexualrepressiv hielten, herrschte in den 50er Jahren der Glaube, die Nazis hätten die Promiskuität gefördert. Diesen Widerspruch galt es zu verstehen.

    Er lässt sich nur historisch verstehen, glaubt Herzog:

    "In der Weimarer Zeit war es einfach so, dass jüdische Mediziner an der Front waren für Kontrazeption, für Abtreibungsrechte, für Schwulenrechte und einfach auch für Glücksversprechen in der Sexualität selber. Was verstanden werden muss, ist, dass die Nationalsozialisten sich nicht nur gegen diese Sachen gerichtet haben, sondern gerade wegen des Glücksversprechens sich an der Juden Statt gesetzt haben - so dass dann nationalsozialistischen. Ratgeber sich selber hervortaten und sich an Stelle der ehemaligen jüdischen Ärzte gesetzt haben: Wie man besser Orgasmen herbeiführen kann, wie man Kondome benutzt usw."

    Sogar die vielzitierten Unterschiede zwischen der sexuell liberalen DDR und der sexmuffeligen Bundesrepublik erklärt Herzog aus den mentalitätsprägenden politischen Rahmenbedingungen:

    "Hier waren wohl vier Faktoren entscheidend: Die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frau - da muss man einfach sagen, die Marxisten haben Recht: Wirtschaftliche Bedingungen haben Auswirkung auf die Sexualität. Auch auf das körperliche Erleben! Dazu im Allgemeinen die egalitäreren Verhältnisse zwischen Männern und Frauen. Zweitens: Man hatte mehr Zeit dafür. Wie Katrin Rohnstock einmal sagte: Sex braucht Fingerspitzengefühl statt Ellenbogen: Also diese Konkurrenzmentalität hat irgendwie einen negativen Effekt auf Sex. Und es gab weniger Zynismus in Bezug auf Liebe. Starke (Anmerk.: Herzog meint den bekannten Sexualforscher Kurt Starke, der früher in der DDR forschte) spricht davon, dass da ein romantisches familienzentriertes Ideal war, das sehr wichtig ist und die Rahmenbedingungen geschaffen hat für ein Suchen nach sexuellem Glück."

    Selbst wenn manche von Herzogs Thesen notgedrungen vorerst spekulativ bleiben müssen, ist ihr Buch ein bahnbrechendes - und selber eminent politisches - Unterfangen: Denn der Beleg, dass privates Glück gewisse Rahmenbedingungen braucht, ist beim heute scheinbar natürlichen Primat der Wirtschaftsthemen nicht nur ein Stachel für die Zeitgeistfeuilletons: Gerade weil es nicht, wie bei den 68ern, anarchisch gemeint ist, wirkt dieses Argument heute schon wieder wie ein Sprengsatz.

    Dagmar Herzog: Die Politisierung der Lust, Siedler Verlag