Archiv

FiSch-Klasse:
Auffangen verhaltensaufälliger Kinder

FiSch, "Familien kommen in die Schule", heißt ein Konzept, mit dem versucht wird, gefährdete Kinder und Jugendliche aufzufangen, bevor sie von der Schule fliegen. Vor über 20 Jahren in London entwickelt, gibt es Schulklassen nach diesem Modell inzwischen auch in Deutschland - zum Beispiel an der Paula-Modersohn-Schule in Bremerhaven.

Von Beate Hinkel |
    "Wollen wir Bingo spielen?"
    "Jaaa."
    "Los geht's, ok. Ein mal sieben, sind sieben."
    Letzter Unterrichtstag in der FiSch-Klasse vor den Ferien. Zum Schluss dürfen sich Kinder und Eltern ein Spiel aussuchen. Auch Otto. Seit drei Wochen ist der Fünft-Klässler, der seinen richtigen Namen im Radio nicht hören möchte, hier:
    "Zuhause läuft es gar nicht gut. Dass ich Mamas Freund immer ärger. Und dann schickt er mich ins Bett, und dann bin ich manchmal wütend. Dann schmeiß ich Sachen rum, die auch kaputt gehen."
    In der Schule gab es immer wieder Rangeleien mit seinen Schulkameraden, erzählt seine Mutter:
    "Aber die Probleme waren jetzt, dass er die Mitarbeit komplett verweigert, wenn er keine Lust hat. Er wollte nach den Pausen nicht wieder zurück in die Klassen, und wenn er mal mitmacht, dann macht er einfach wie er das will. Und es haben auch sehr oft die Hausaufgaben gefehlt."
    Die Probleme zogen sich durchs ganze Schuljahr, sodass Otto vor drei Wochen mit seiner Mutter in die FiSch-Klasse kam:
    "Ich war total happy. Wenn ich das gewusst hätte, dass es das gibt, dann hätte ich es schon viel früher machen wollen."
    Einen Vormittag in der Woche treffen sich sechs bis acht Kinder in Begleitung eines Elternteils mit einem Lehrer und einem Coach in der Paula-Modersohn-Schule. In den ersten beiden Schulstunden wird gelernt, im zweiten Teil gibt es Übungen zur Teamfähigkeit und Kommunikation. Jeder hat seine Rolle, erklärt die Sozialarbeiterin und Familienberaterin Marita Termathe:
    "Ein Bestandteil ist, dass Eltern in der FiSch-Klasse auch in Verantwortung gehen. In der Regel sitzen sie im Hintergrund und beobachten genau diese Interaktion Lehrkraft – Schüler. Auch sie haben die Möglichkeit, zu intervenieren, auch zu sagen, 'Moment, hier machen wir nen Brake, weil da läuft gerade was schief'. Es ist ganz spannend mitzubekommen, wie erleben die Eltern die Kinder Zuhause und wie in der Schule. Und dann sagen die Eltern oder geben Hinweise, wie damit umzugehen ist. Dann sagen sie zum Beispiel, es ist jetzt wichtig, dass man ihn in Ruhe lässt, der muss jetzt erst mal runterkommen, und dann kann man so drei Minuten später wieder neu anfangen."
    Eltern kennen ihre Kinder am besten. In der FiSch-Klasse geht es darum, dieses Wissen zu nutzen. Marita Termathe versteht sich in diesem Prozess als Coach:
    "Es geht darum zu unterstützen, zu begleiten und nicht zu sanktionieren. Hier geht es um Lösungen, hier geht es nicht darum, sich zu kränken. Und das ist so wichtig. Und wirklich die Möglichkeit eines Trainierens halt auch zu geben, in einer kleinen Gruppe von anderen Verhaltensweisen, die man sonst vielleicht in der großen Gruppe nicht hatte oder zumindest bis dato nicht gezeigt hat."
    Jedes Kind bekommt eigene Zielvereinbarungen. Nach jeder Schulstunde bewerten die Lehrer, ob sie erreicht wurden. Bei Otto steht: "Ich bleibe auf meinem Platz sitzen." - "Ich spreche leise im Unterricht." – "Ich konzentriere mich auf meine Aufgaben." Nach drei Wochen klappt es schon deutlich besser:
    "In der zweiten Woche hat es gar nicht geklappt. Hier hat es super geklappt."
    Das direkte Feedback hilft den Kindern, ihr Verhalten einzuordnen. So hat der zwölfjährige Milo nach zwölf Wochen die FiSch-Klasse erfolgreich beendet. Im Unterricht redet er weniger, und vor allem lässt er seine Fäuste in der Tasche, wenn er sich geärgert hat. Seine Mutter ist begeistert:
    "Also er hat nen Sturkopf. Ich kann nicht zu ihm sagen, 'du machst jetzt das und das'. Das musste immer in kleinen Schritten gehen. Zum Beispiel mit dem leise sein: Dass er Belohnung auch bekommen hat, wenn er leise war. Das wir gesagt haben: 'Ok, gut, wenn es zwei Wochen klappt, dann darfst du dir einen Freund aussuchen und darfst dich dann da hin setzen.' Und es hat wirklich geklappt."
    Viele andere Kinder, die schon in der FiSch-Klasse waren, sind wie Otto und Milo auf einem guten Weg. Und deshalb hat sich die Schule entschlossen, das Projekt dauerhaft zu finanzieren. Auch, wenn es kein Allheilmittel ist, wie der Lehrer der FiSch-Klasse, Alexander Karkowski sagt:
    "Wir müssen aber auch ganz klar sagen, dass es hier keine Wunderwaffe ist, sondern wir haben auch Schüler, die ein zweites Mal hier sind, und wir haben auch Schüler, wo wir hier an unsere Grenzen stoßen."
    Nach dem Bingo-Spiel geht es für die Kinder in Bremerhaven jedoch erst einmal "Ab in die Ferien":
    "Tschüss, tschüss, schöne Ferien. Schönen Urlaub. Wünsche ich Ihnen auch."