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Fischen im Trivialen

Soziale Netzwerke sind eine Goldgrube. Twitter, Facebook und Co. liefern endlos Daten, die früher Mangelware waren: Aktuelle Informationen über die Interessen, Vorlieben und Einschätzungen von Millionen Erdenbürgern. Die Myriaden persönlicher Textbotschaften, die täglich im Internet veröffentlicht werden, ähneln einer Art sozialem Pulsschlag des Planeten. Wer sie mit Computern durchforstet, kann daraus ein Kondensat des Zeitgeistes destillieren. Werbeprofis nutzen das schon lange, um zu verstehen, wie bestimmte Bevölkerungsgruppen ticken.

Von Ralf Krauter | 28.05.2012
    Der Weg zum Allerheiligsten führt ins Untergeschoss. Karina Schmitt lässt den Heizungskeller links liegen und öffnet eine schwere Metalltür. Über ein paar Stufen geht es auf eine erhöhte Plattform und durch eine Glastür. Den klimatisierten Gang dahinter säumen mannshohe Elektronik-Schränke, in denen Hunderte Computer und Festplatten stecken.

    "Das hier ist jetzt das Thor-Cluster. Das sind 90 Cluster-Knoten. Da finden die Berechnungen gleichzeitig statt."


    Die 90 vernetzten Rechner sind das elektronische Gehirn des Max-Planck-Instituts für Softwaresysteme in Saarbrücken. Die Forscher verwenden sie, um die riesigen Datenberge sozialer Online-Netzwerke zu durchwühlen.

    "Das hier sind alles Schränke voller Festplatten. Auf solchen Platten sind halt die Twitter-Daten beispielsweise gespeichert."

    Dr. Krishna Gummadi betritt den Serverraum nur selten. Über Glasfaserkabel hat er vom Büro aus Zugriff auf den Computer-Cluster und die gebunkerten Daten. Auf seinem Schreibtisch stehen zwei große Monitore und ein Laptop, darunter zwei schnelle PCs. Krishna Gummadi leitet am Max-Planck-Institut für Softwaresysteme die Gruppe Netzwerkforschung. Er stammt aus Indien und ist Experte für die Analyse sozialer Netzwerke – ein Gebiet, in dem derzeit Goldgräberstimmung herrscht.

    "Das Konzept, dass Daten der Motor der Forschung sind, wird immer populärer. In der Physik und der Biologie ist es längst üblich, riesige Datenberge zu durchforsten. Denken sie nur an die Experimente im Teilchenbeschleuniger LHC bei Genf oder an die Bioinformatik. Denselben Trend beobachten wir jetzt bei der Analyse sozialer Interaktionen."

    Immer mehr Menschen pflegen ihre Beziehungen über Internetplattformen wie Facebook, Twitter und Xing. Für Krishna Gummadi ist der uferlose Strom veröffentlichter Meldungen und Meinungen ein Glücksfall.

    "Soziale Netzwerke im Internet haben Hunderte Millionen Nutzer, die miteinander kommunizieren und interagieren. Weil all diese Interaktionen online stattfinden, können sie sehr leicht beobachtet und ausgewertet werden. Wir erhalten eine Flut von Daten, die wir analysieren können. Diese Daten sind eine Goldgrube, denn sie erlauben es, etablierte soziologische Theorien im großen Stil zu überprüfen."

    Internetplattformen, über die sich Menschen vernetzen, um Informationen auszutauschen, sind wie Pilze aus dem Boden geschossen. Es begann 2002 mit der Fototauschbörse Flickr; 2003 folgten die Karrierenetzwerke LinkedIn und Xing. 2004 wurde Facebook gegründet, 2005 die Video-Plattform Youtube und das Studentennetz StudiVZ. Der Kurznachrichten-dienst Twitter ging 2006 an den Start, SchülerVZ 2007, Google+ 2011.

    Die derzeit beliebtesten Plattformen sind Facebook und Twitter. Facebook hat mittlerweile über 845 Millionen Nutzer: Knapp eine halbe Milliarde Menschen besuchen die Internetseite jeden Tag, um Freunden und Bekannten Textnachrichten, Bilder, Videos und Weblinks auszutauschen. Der Kurznachrichtendienst Twitter hat über 140 Millionen aktive Nutzer, die täglich über 340 Millionen Textbotschaften verschicken. Alle drei Tage eine Milliarde Meldungen, oder Tweets, die maximal 140 Zeichen lang sind. Die Masse macht es. Deshalb sind Twitter und Facebook auch für Forscher die spannendsten Plattformen. Physiker und Informatiker begannen als erste, den Datenschatz zu heben - Fachleute also, die wissen, wie man in einer Flut von Informationen die Spreu vom Weizen trennt. Dr. Bruno Goncalves von der Northeastern University in Boston ist einer von ihnen.

    "Bei Umfragen, den traditionellen Werkzeugen der Sozialwissenschaftler, ist die Zahl der Teilnehmer ja immer begrenzt. Außerdem werden die Menschen dabei in künstlichen Laborsituationen befragt und antworten nicht immer ehrlich. Über soziale Netzwerke können wir unverfälschte Daten über die Beziehungen von Millionen Menschen erfassen. Das erlaubt es, soziale Prozesse nicht mehr nur in kleinen Gruppen zu untersuchen, sondern endlich auch auf der Ebene der Gesellschaft."

    Mit Hilfe von Twitter-Daten konnte Goncalves kürzlich eine Theorie bestätigen, die der britische Evolutionspsychologe Robin Dunbar vor 20 Jahren aufgestellt hatte. Sie besagt, dass Menschen im Mittel nur zu rund 150 Artgenossen Beziehungen unterhalten können.

    "Wir können uns zwar Tausende Gesichter merken, aber eine Beziehung zu unterhalten, ist kognitiv viel anstrengender. Dafür reicht es nicht zu wissen: Diese Person habe ich schon mal gesehen. Sie müssen sich merken, wer sie ist, wie sie zu ihnen steht, und worüber sie gesprochen haben. Dunbars Theorie zufolge stößt unser Gehirn irgendwann an seine Grenzen."

    Zu diesem Schluss kam Robin Dunbar, nachdem er die Gehirne von Säugetieren untersucht hatte. Je größer der Anteil des Neokortex am Großhirn, desto größer die Gruppen, in denen die Tiere normalerweise zusammenleben. Auf den Menschen übertragen, ergab dieser Zusammenhang die Dunbar-Zahl 150. Bruno Goncalves hat sie untermauert, indem er die Interaktionen von vier Millionen Twitter-Nutzern untersuchte.

    "Wir haben ausgewertet, mit wie vielen Twitterern sich die User regelmäßig austauschen. Die Kurve zeigt ganz klar eine Sättigung. Wenn die Zahl ihrer Beziehungen 150 überschreitet, sind sie nicht mehr in der Lage, alle Kontakte zu pflegen. Sie tauschen sich seltener aus, weil ihre kognitive Kapazität nicht ausreicht, sich um alle zu kümmern."

    Beziehungsgeflechte analysieren und ihre Dynamik verstehen – das sind Dinge, mit denen sich traditionell Soziologen beschäftigen. Die Jüngeren unter ihnen haben längst erkannt, welches Potenzial das Durchforsten sozialer Netzwerke birgt. Kevin Lewis zum Beispiel nahm Facebook zu Hilfe, um zu untersuchen, wie sich Geschmack und Vorlieben in der Gesellschaft verbreiten.

    "Do we choose our friends based on our preferences or do we change our preferences based on our friends?"

    Färben die Einstellungen unserer Freunde und Bekannten auf uns ab? Oder umgeben wir uns von vornherein mit Menschen, deren Vorlieben und Ansichten wir teilen? Dieses soziologische Henne-Ei-Problem war der Ausgangspunkt des Doktoranden an der Universität Harvard.

    "Diese Frage ist extrem schwer zu beantworten. Man muss dazu über einen langen Zeitraum Daten über die Freundschaften und Vorlieben von Menschen sammeln und verfolgen, wie sie sich verändern."

    Facebook kam da wie gerufen. 2006 erlaubte das Unternehmen Kevin Lewis und seinen Kollegen, die öffentlichen Profildaten von 1600 Erstsemestern einer anonymen US-Universität zu erfassen. Bis 2009 erhielten die Forscher dann jährlich aktualisierte Schnappschüsse dieser Profildaten. So konnten sie Beziehungen und Präferenzen eines kompletten Jahrgangs vom ersten bis zum letzten Tag an der Universität verfolgen.

    "Wir interessieren uns vor allem für Veränderungen. Für Freundschaften, die geschlossen oder beendet wurden und für Filme, Musik und Bücher, die jemand zu seiner Favoritenliste hinzufügt oder davon entfernt hat."

    Einer gängigen Theorie zufolge verbreiten sich Geschmack und Vorlieben über soziale Netzwerke wie Parfümduft in einem Raum. Doch die Ende 2011 publizierten Ergebnisse der Facebook-Studie widersprechen dieser Theorie. Sie zeigen, dass Geschmack und Vorlieben erstaunlich selten ansteckend wirken. Studenten, die sich gut kennen, mögen zwar oft ähnliche Dinge. Aber das liegt nicht daran, dass sie sich gegenseitig beeinflussen und inspirieren, sondern an sozialer Selektion: Sie suchen bevorzugt den Kontakt zu Kommilitonen derselben Wellenlänge. Lewis:

    "Wir haben uns 15 Gruppen von Favoriten angeschaut, je fünf aus den Bereichen Musik, Filme und Bücher. Von all diesen 15 Präferenzen hat sich nur die Vorliebe für Klassik und Jazz-Musik verbreitet. Wenn ihre Freunde solche Musik mögen, steigt die Chance, dass sie ebenfalls daran Gefallen finden. Warum das die einzige Vorliebe ist, die ansteckend wirkt, wissen wir nicht. Vielleicht gilt die Präferenz für Klassik und Jazz als Statussymbol, das man gerne von seinen Freunden übernimmt."

    Bücher zeigten unter den Studenten keinerlei Ansteckungseffekt - was erstaunlich ist und eine Frage aufwirft, die sich beim Durchforsten sozialer Netzwerke immer stellt: Wie zuverlässig sind die verfügbaren Informationen? Verraten die Myriaden von Statusupdates, Favoritenlisten und Empfehlungen, die Menschen online kundtun, tatsächlich, was sie wirklich denken und mögen? Oder wollen die Nutzer vor allem ihr Image pflegen? Lewis:

    "Als Soziologe sorge ich mich weniger um die wahren Vorlieben der Menschen. Mich interessiert, was die Leute öffentlich von sich preisgeben. Denn das beeinflusst ihre Beziehungen. Eine persönliche Vorliebe oder Abneigung, die ich keinem mitteile, hat keinen Einfluss darauf, wie mich andere wahrnehmen und welche Freundschaften ich schließe. Es sind also genau diese veröffentlichten Daten, die uns Einblicke in soziale Dynamiken gewähren."

    Für seine Doktorarbeit untersucht Kevin Lewis gerade die anonymisierten Kommunikationsprotokolle einer US-Online-Partnerbörse mit 1,8 Millionen Nutzern. Die Daten aus dem Jahr 2010 verraten, wer sich wann wessen Profil angeschaut hat - und mit wem er anschließend Kontakt aufnahm. Die ersten Befunde sind spannend. So zögern die meisten User zum Beispiel, von sich aus Kontakt zu einer Person mit anderer Hautfarbe aufzunehmen. Werden sie ihrerseits angesprochen, antworten aber viele.

    "Die Hemmschwelle ist anfangs hoch, verschwindet aber in der Regel, sobald jemand sie überschreitet: Die soziale Barriere wird durchlässig. Es ist seit langem bekannt, dass Kriterien wie Rasse und Bildungsgrad sehr wichtig bei der Partnerwahl sind. Wir können nun untersuchen, wann und unter welchen Umständen sie ihre Bedeutung verlieren."

    In ihrer Gesamtheit bilden die endlosen Datenströme von Twitter, Facebook und Co. eine Art sozialen Pulsschlag des Planeten. Wer das Web 2.0 mit Computern durchforstet, kann daraus ein Kondensat des Zeitgeistes destillieren und besser verstehen, wie die Gesellschaft tickt. Werbeprofis nutzen das schon lange, um ihre Botschaften zielgerichtet unters Volk zu bringen. Auch Spin-Doktoren, die das Image von Firmen und Politikern pflegen, lauschen dem Echo der Tweets, um Trends und Stimmungen frühzeitig zu erkennen - und gegebenenfalls im Sinne ihrer Auftraggeber zu beeinflussen. Doch wie verbreitet sich Information in den Tiefen des sozialen Webs? Wer beeinflusst wen? Und wann macht eine Neuigkeit wie ein Lauffeuer die Runde? Das sind Fragen, die den Netzwerkforscher Krishna Gummadi umtreiben. Antworten sucht er unter anderem bei Twitter. 2009 gewährte der Mikroblogdienst dem Saarbrücker Max-Planck-Forscher Zugriff auf alle öffentlichen Nachrichten, die seine Nutzer bis dahin verschickt hatten.

    "Wir haben einen ziemlich großen Datensatz. Er umfasst rund 54 Millionen aktive User, circa 1,1 Milliarden Verbindungen zwischen ihnen und etwa 1,9 Milliarden Nachrichten, die sie verschickt haben. Unser ursprüngliches Ziel war zu verstehen, wie sich Information über Twitter verbreitet. Doch wir mussten schnell feststellen: Die Dinge sind komplizierter. Verschiedene Typen von Information breiten sich unterschiedlich aus - klassische Nachrichten etwa ganz anders als soziale Konventionen."

    Aktuell untersucht der Informatiker wie bestimmte Retweet-Konventionen entstanden sind, also Textkürzel mit denen Twitterer die Urheber weitergeleiteter Nachrichten kenntlich machen.

    "Das Schöne an unserem Datensatz: Wir können nachschauen, wer ein bestimmtes Textkürzel das erste Mal verwendet hat, wer als zweiter, als zehnter und 200. Wir kennen alle Interaktionen zwischen diesen Personen und können so nachvollziehen, wie sich Konventionen verbreitet haben."

    Viele halten die Zahl der Follower für entscheidend für den Einfluss eines Twitterers. Doch Gummadi zufolge ist die Größe der Gefolgschaft nicht das Maß aller Dinge. Es kommt nicht darauf an, möglichst viele Anhänger zu haben, sondern die richtigen.

    "Vergleicht man die Liste der Twitterer mit den meisten Followern mit der Liste jener Nutzer, deren Tweets am häufigsten weitergeleitet werden, gibt es da kaum Übereinstimmung. Viele Follower sind also keine Garantie dafür, dass die eigenen Nachrichten weite Kreise ziehen. Britney Spears zum Beispiel hat zwar viele Fans, aber nur wenige leiten ihre Tweets weiter. Ein Nachrichtenportal wie CNN dagegen hat weniger Abonnenten, doch die leiten Meldungen öfter weiter."

    Renommierte Journalisten und Nachrichtenportale sind deshalb oft ausschlaggebend dafür, dass eine Meldung wie ein Lauffeuer die Runde macht. Zu diesem Ergebnis kamen kürzlich auch Forscher des Georgia Institute of Technology, die sich die Twitter-Nachrichtenlawine vom 1. Mai 2011 vorgenommen hatten. Um 22:24 Uhr sendete ein Assistent des früheren US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld damals die Nachricht "WeGotBinLaden". 8 Minuten später bestätigte eine Mitarbeiterin von CBS News: Osama Bin Laden sei getötet worden. Doch erst als ein Reporter der "New York Times" kurz darauf beide Tweets an seine Follower weiterleitete, begann sich die Nachricht in Windeseile zu verbreiten - mit über 5000 Tweets pro Sekunde.

    Noch steckt das Datenschürfen in sozialen Netzwerken in den Kinderschuhen. Doch die Anwendungen sind so verlockend, dass sich nicht nur Grundlagenforscher dafür interessieren. Richtig spannend wird es, wenn man die Inhalte der Kurznachrichten analysiert. Programme, die in Textbotschaften nach Schlüsselwörtern suchen, gibt es schon lange. In Kombination mit dem Summen des sozialen Webs eröffnen sie nun neue Optionen. Wie weitreichend die sind, erfuhren zwei Urlauber, denen man Anfang des Jahres die Einreise in die USA verweigerte. Die Heimatschutzbehörde nahm einen Iren und seine Freundin nach der Landung in Haft. Sein Vergehen: Er hatte getwittert, man wolle es in Amerika jetzt mal richtig krachen lassen.

    Was Twitterer zwitschern, Facebook-User posten und Internet-Blogger schreiben, gibt Aufschluss über ihre Stimmung, ihre Meinung und Absichten. Im Einzelfall können Computer Textbotschaften zwar durchaus einmal falsch interpretieren. Doch wer Millionen Meldungen durch die Mangel dreht, mittelt die gröbsten Fehler statistisch heraus. Dr. Peter Dodds nutzt das, um zu messen, wie glücklich seine Landsleute sind. Der Physiker von der University of Vermont in Burlington hat ein Glücksbarometer entwickelt. Dazu hat er in Blogs mehr als 10 Millionen Sätze untersucht, die mit dem englischen "I feel…" oder "I’m feeling…" beginnen. Auf Twitter nahm er schon Botschaften mit insgesamt über 100 Milliarden Wörtern ins Visier. Mit Suchalgorithmen fahndet Peter Dodds darin nach Tausenden emotionalen Schlüsselwörtern, die Menschen zuvor in Umfragen auf einer Glücksskala von eins bis neun bewertet hatten.

    "Wörter wie 'Paradies' und 'Liebe' sind sehr positiv besetzt und stehen ganz oben, neutrale Begriffe wie 'Straße' oder 'Papier' in der Mitte, 'Terrorist' und 'Selbstmord' ganz unten. Um den Glücksindex eines Textes zu ermitteln, berechnet der Computer den Mittelwert seiner Wortbausteine. Um noch besser zu werden, wollen wir künftig auch den Kontext der Schlüsselwörter berücksichtigen."

    Peter Dodds Analysen zufolge schwankt das Glücksbarometer der Amerikaner seit sechs Jahren zwischen 5,8 und 6. Der letzte deutliche Anstieg war 2008 zu verzeichnen, bei Barack Obamas Wahl zum Präsidenten. Den markantesten Einbruch der letzen Jahre verzeichnete das Hedonometer im Juni 2009. Auslöser damals: Der Tod Michael Jacksons.

    Forscher der Universität Bristol präsentierten kürzlich ähnliche Analysen für Großbritannien, basierend auf einer Sammlung von 484 Millionen Tweets. Auch dort spiegelt das Stimmungsbarometer gesellschaftliche Befindlichkeiten wider. Als die Regierung im Oktober 2010 drastische Sparmaßnahmen beschloss, nahmen emotional negativ besetzte Wörter im Twitter-Strom zu. Genau wie bei den Krawallen, die vor knapp einem Jahr britische Großstädte erschütterten. Die königliche Hochzeit von Kate und Prinz William dagegen stimmte die Gemüter versöhnlicher. Krishna Gummadi:

    "Wenn man 10 oder 100 Millionen Menschen auf Twitter zuhört, kann man natürlich eine Menge wertvoller Informationen extrahieren. Regierungen könnten das nutzen, um ein Gespür zu bekommen, was den Bürgern Sorgen macht. Es gibt zum Beispiel Leute, die melden Schlaglöcher in ihrer Nachbarschaft. Eine lokale Behörde könnte davon profitieren, um sie schneller zu reparieren. Und das ist nur ein Beispiel."

    Doch das Text-Mining im sozialen Web könnte auch gegen die Interessen der Bevölkerung eingesetzt werden. Politische Potentaten könnten aufkeimende Unruhen erahnen. Gut möglich, dass der arabische Frühling anders verlaufen wäre, hätten die Herrscher in Nordafrika und Nahost die Zeichen auf Twitter, Facebook und Youtube früher erkannt. Vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis solche sozialen Frühwarnsysteme gesellschaftsfähig werden. Und auch der nächste Schritt wird schon erprobt: Menschen über soziale Netzwerke so zu beeinflussen, dass sie Dinge tun, die sie von alleine nicht getan hätten. Forscher der Northwestern University in Chicago zum Beispiel gaben den Teilnehmern eines Handyspiels Anreize, Gebäude aus ungewöhnlichen Perspektiven zu fotografieren. Daraufhin verließen viele Studenten ihre gewohnten Pfade auf dem Campus, um etwa die Bibliothek von hinten zu knipsen. Crowdsourcing und Crowdcontrol, so heißen solche Anwendungen, die künftig wichtiger werden könnten

    Noch ist die Goldgrube Soziales Netzwerk schwer zugänglich. Noch nicht einmal Geheimdienste können den gesamten Datenstrom in Echtzeit belauschen. Derzeit durchkämmen sie die Informationsflut mit feinmaschigen Netzen und filtern nach bestimmten Schlagwörtern. Treten mehrere davon gehäuft auf, könnte das ein Indiz dafür sein, dass irgendwo etwas im Busch ist. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Dr. Kerstin Denecke vom Forschungszentrum L3S der Universität Hannover. Die Bioinformatikerin koordiniert ein EU-Forschungsprojekt, das darauf abzielt, den Ausbruch ansteckender Krankheiten frühzeitig zu erkennen.

    "Wir wollen halt auch Twitter-Nachrichten nutzen. Und die Idee ist: Wenn es mir jetzt schlecht geht, dass ich dann Tweets abschicke, um mitzuteilen, dass es mir schlecht geht. Und dass wir eben davon ausgehen, dass man daran eben frühzeitiger erkennen kann, wenn in der Bevölkerung was passiert im Hinblick auf Krankheiten."

    Bis zu 30 000 Tweets filtern Kerstin Deneckes Rechner jeden Tag – immer auf der Suche nach Symptomen, die typisch für Masern, Influenza-Infektionen und Durchfallerkrankungen sind. Auffällige Häufungen der Suchwörter soll die Software zur Seuchenbekämpfung künftig automatisch an das Robert-Koch-Institut in Berlin weiterleiten. Doch es sei schwieriger als gedacht, aus dem Echo der Tweets verlässliche Hinweise zu kondensieren, räumt Kerstin Denecke ein. Denn Twitter-Nachrichten sind oft kryptisch und mehrdeutig.

    "Gerade wenn man nur 140 Zeichen zur Verfügung hat, wird extrem stark abgekürzt. Das muss verarbeitet werden, muss erkannt werden. Das ist komplett anders als das, was man aus der Medizin kennt. Das medizinische Vokabular taucht da eigentlich nur auf, wenn Redaktionen ihre aktuellen Nachrichten twittern."

    Die Suche nach Schlagwörtern wie Fieber, Husten und Schnupfen liefert also nur ein grobmaschiges Netz, das die Forscher in mühsamer Kleinarbeit immer feiner weben.

    "Es gibt dann auch diverse Wörter für Durchfall. Also wir haben so eine ganze Liste. Scheißerei, Kackeritis, flotter Otto und alle solche Sachen haben wir schon in den Suchalgorithmen mit drin. Wir wissen ja nicht, was die Leute tatsächlich schreiben."

    Ein weiteres Problem sind Fehlalarme. Als der Teenie-Star Justin Bieber in aller Munde war, verbreitete sich das "Bieber-Fieber" lawinenartig im Netz und führte die Suchalgorithmen in die Irre. Beim EHEC-Ausbruch vor einem Jahr war das Frühwarnsystem noch nicht einsatzfähig. Doch die Datenanalyse im Nachhinein zeigte: Es gab sogar schon kurz vor der offiziellen Bekanntgabe durch das Robert-Koch-Institut auffällig viele Tweets zum Thema Durchfall. Denecke:

    "Also, wo Leute wirklich geschrieben haben: Mir geht’s schlecht, ich habe Durchfall, ich sitze den ganzen Tag auf der Toilette. Aber natürlich ist es jetzt schwierig im Nachhinein festzustellen: Bezog sich das jetzt auf diesen Ausbruch oder hatten die einfach nur was Falsches gegessen?"

    Hinreichend verfeinert könnte das Belauschen sozialer Netzwerke Epidemiologen künftig also vielleicht einen kleinen Zeitvorteil verschaffen. In den USA arbeiten Forscher an ähnlichen Frühwarnsystemen. Ob das Konzept in Deutschland wirklich Zukunft hat, hängt nicht zuletzt davon ab, ob soziale Netzwerke weiter so massiv Zulauf erhalten wie bisher. Kerstin Denecke:

    "Im Moment ist es halt wirklich so, dass die Auswertungen auch zeigen, dass wir deutschsprachige Tweets mit bestimmten Symptomen gar nicht so viele relevante finden. Aber wir und auch das Robert Koch Institut ist noch voller Hoffnung, dass das in den nächsten Jahren tatsächlich kommen wird, dass eben immer mehr Leute Twitter oder diese social media Werkzeuge nutzen, um tatsächlich auch Krankheitssymptome zu berichten."

    Es könnte aber auch anders kommen. Experten unken, der Hype um "Social Media" sei bald vorbei. Viele Facebook-User aktualisieren ihre Seiten immer seltener. Millionen Twitter-Nutzer haben noch nie eine Nachricht verschickt oder empfangen, sind also nur Karteileichen im sozialen Web. Der Soziologe Kevin Lewis von der Universität Harvard ist trotzdem überzeugt, dass der Zug nicht mehr zu stoppen ist. Das Echo der Tweets sagt er, habe eine neue Ära eingeläutet hat.

    "Man könnte es das Zeitalter der computerbasierten Sozialwissenschaften nennen. Die neuen Werkzeuge bieten phantastische Möglichkeiten, menschliches Verhalten im großen Stil zu untersuchen."

    Denecke: "Wenn es in die falschen Hände gerät, kann man das natürlich auch missbrauchen, solche Technologie."

    Die auf Seuchenvorhersagen spezialisierte Bioinformatikerin Kerstin Denecke ist weder bei Twitter noch Facebook aktiv. Sie nutzt soziale Online-Netzwerke nur beruflich, für das Schürfen im Datenstrom.

    "Im Bereich Terrorismus wird das ganz sicher schon angewendet. Es werden ja ab und zu mal Leute an irgendwelchen Flughäfen festgenommen, die was getwittert haben. Also es findet durchaus schon Einsatz. Ist natürlich die Frage: In welche Hände kommen solche Technologien. Und wofür werden sie tatsächlich eingesetzt?"

    Auch Krishna Gummadi, der Netzwerkforscher vom Max-Planck-Institut für Softwaresysteme nutzt Twitter und Facebook aus Datenschutzgründen nur sehr bedachtsam.

    "I think the awareness about the dangers of privacy violations here is still far lower than what I think it should be."

    Die meisten Menschen, sagt er, unterschätzen massiv die Gefahr des Missbrauchs persönlicher Daten. Die Rechtslage im Umgang mit privaten Informationen im Web 2.0 sei unübersichtlich und unklar.

    "Hinzu kommt die wachsende Gefahr durch die Verknüpfung von Daten. Es gibt in den USA Firmen, die alle Facebook-Daten einer Person sammeln und sie mit Twitter-Meldungen und weiteren öffentlich verfügbaren Informationen verknüpfen. Für ein paar Dollar kann man komplette Persönlichkeitsprofile kaufen, aus denen hervorgeht, wieviel jemand für sein Haus bezahlt und wann er es zuletzt renoviert hat. Wer Online-Daten clever kombiniert, kann sehr viel über jemanden in Erfahrung bringen"

    Krishna Gummadis Fernziel ist es, soziale Computernetzwerke besser und sicherer zu machen. Seine eigentliche Arbeit hat eben erst begonnen.