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Fischer erwartet Ja der Franzosen zur EU-Verfassung

Außenminister Joschka Fischer ist zuversichtlich, dass die Franzosen am 29. Mai für die EU-Verfassung stimmen werden. Frankreich werde als Gründungsnation der Europäischen Union eine europäische Entscheidung treffen, erklärte Fischer. Der Grünen-Politiker warf der Opposition vor, in der Visa-Affäre vor allem ihn persönlich anzugreifen.

    Sabine Adler: Herr Minister, der Bundestag hat die europäische Verfassung mit überzeugender Mehrheit verabschiedet. Es war eine vergleichsweise problemlose Angelegenheit, während ja Frankreich und Großbritannien oder auch die Niederlande sich sehr, sehr viel schwerer tun mit der europäischen Verfassung und dort ein Scheitern durchaus nicht ausgeschlossen werden kann. Sind wir Deutschen einfach weniger europaskeptisch oder bleibt uns das Ganze nur erspart, die Auseinandersetzung mit der Verfassung, weil eben nicht das Volk in einem Referendum abstimmt, sondern das der Bundestag für die Bürger erledigt hat?

    Joschka Fischer: Klar, in einem Referendum, das lädt natürlich ein zu vielfältigen, völlig legitimen anderen Interessen. Und in der Regel zielt das auf die Regierung im Amt. Hinzu kommt bei uns - wir haben jetzt den 60. Jahrestag begangen -, dass sich die europäische Einbindung in Deutschland aufgrund unserer tragischen Geschichte natürlich anders stellt. Wenn es den Zweiten Weltkrieg, die nationalsozialistische Diktatur nicht gegeben hätte, wenn wir heute noch den Sedantag, seit Kaisers Zeiten damals Nationalfeiertag, als Nationalfeiertag begehen würden, Berlin nicht geteilt, Deutschland nicht geteilt gewesen wäre, wenn wir all diese furchtbaren Erfahrungen nicht gemacht hätten, sondern in der selben Kontinuität wie Großbritannien oder Frankreich uns befänden, würde uns vielleicht manches auch schwerer fallen. Das muss man verstehen. Darüber hinaus war aber die Arbeit an der Verfassung überparteilich angelegt. Das heißt mit Erwin Teufel als Ländervertreter, aber auch durch Repräsentanten der CDU aus dem Deutschen Bundestag, das war sozusagen eine fast All-Parteien-Anstrengung, so dass unter dem Gesichtspunkt es natürlich sehr breit angelegt war, was sich ja dann auch in der Abstimmung des Bundestages niedergeschlagen hat. Aber es war ein sehr demokratischer Prozess. Ich kann nicht nachvollziehen, wenn jetzt gesagt wird, dieser Prozess hätte mangelnde Transparenz oder ähnliches gehabt.

    Adler: Wenn wir uns das Ergebnis angucken, 95 Prozent, das erinnert so ein bisschen an DDR-Resultate, Volkskammerwahl und so weiter. Dennoch, es gab natürlich auch Kritik. Es gab Diskussionen, und es gab ja auch Enthaltungen beziehungsweise Gegenstimmen. Unter anderem gab es aber auch die Äußerung des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, dass jetzt nach der Annahme der Verfassung in Deutschland es eines nicht geben wird, nämlich die Zustimmung zur Aufnahme der Türkei in die Europäische Union. Heißt das, dass wir jetzt die Probleme mit Europa erst kriegen?

    Fischer: Nein. Also erst mal war es kein Honecker-Ergebnis, weil diese 95 Prozent reflektieren den breiten europapolitischen Konsens. Ich habe auch in der Opposition mich für Maastricht eingesetzt damals. Ich halte das für einen wichtigen Punkt, dass wir diesen Konsens haben. Die Frage der Türkei stellt sich jetzt nicht. Was sich stellt, ist nicht der Beitritt der Türkei. Der wird sich vermutlich, wenn er sich stellt, in 15 Jahren stellen, weil noch große, große Veränderungen in der Türkei stattfinden müssen. Wir, die Deutschen, Europa, haben ein Interesse an diesen Veränderungen. Es wird für die Türkei kein einfacher Prozess werden, aber gleichzeitig sehen wir, dass das Land Fortschritte macht bis hin, dass jetzt die Debatte über die Vergangenheit mit Armenien und den Armeniern in der Türkei begonnen hat über die Massaker. Eine Öffnung der Gesellschaft ist zum Beispiel, dass die kurdische Sprache erlaubt ist, dass der Rechtsstaat sich fortentwickelt, Folterverbot und und und. All diese Dinge, die brauchen ihre Zeit. Aber die europäische Perspektive ermöglicht diese Dinge. Es kann nicht in unserem Interesse sein - Edmund Stoiber, er ist ja so der "'Ja - aber'-Europäer", ich habe das bei Maastricht erlebt, ich habe es ja jetzt wieder erlebt, meint immer, etwas finden zu müssen, wo er dann die Opposition dran aufbauen kann. Am Ende, sollte eine europafähige Türkei dann vor uns stehen, bin ich sicher, wird es zu einem 'Ja' auf beiden Seiten kommen, und zwar dann auch unter Einschluss der CSU. Es ist ja nicht so, dass die CSU in der Türkei immer Fundamentalopposition gemacht hat. Ich erinnere mich an eine berühmte Presseerklärung des Landesgruppenvorsitzenden der CSU im Deutschen Bundestag, Herrn Glos, der im Grunde genommen damals 1997 im Zusammenhang mit dem Europäischen Rat in Luxemburg eine Position vertreten hat, wie sie die Bundesregierung, wie ich sie heute vertrete.

    Adler: Kommen wir noch mal zurück zur europäischen Verfassung. Sie waren in dieser Woche in Lyon aktiv, also in Frankreich, werben dort für die Verfassung. Gerade in Frankreich kommt gerade von der Linken viel Kritik an der europäischen Verfassung, Stichwort Neoliberalismus, Kapitalismus. Teilen Sie diese Kritikpunkte?

    Fischer: Nein, die teile ich überhaupt nicht, sondern wenn Sie sich anschauen, etwa vergleichbar mit dem Grundgesetz, die Sozialkapitel in der europäischen Verfassung sind spezifizierter, gehen weiter. Insofern kann ich diese Kritik überhaupt nicht nachvollziehen. Ausgefüllt wird eine Verfassung durch die Wahlentscheidung und die Mehrheit. Natürlich werden konservativ-liberale Mehrheiten eine andere Politik betreiben als etwa sozialdemokratisch-sozialistisch-grüne Mehrheiten. Das ist auf nationaler Ebene ganz genau so, sonst müssten wir ja nicht wählen gehen. Was von dieser Kritik, weshalb ich mich schwer damit tue, sie als links zu bezeichnen, bedeutet ja, den europäischen Integrationsprozess als die Voraussetzung für nachhaltigen Frieden auf unserem Kontinent völlig zu unterschätzen. Und auch die Ausgestaltung der Gerechtigkeit ist nicht eine Frage, die Sie mit der Verfassung lösen. Es gibt kein Zurück in den Nationalstaat, die Grenzen werden nicht wieder hochgezogen werden. Das ist der große Irrtum. In Frankreich ist natürlich ein gut Teil der Kritik auch von links, was völlig legitim ist, ich habe es vorhin gesagt, innenpolitisch motiviert. Insofern ist die wichtige Botschaft, ich bin da sehr optimistisch, dass Frankreich als die Gründungsnation der Europäischen Union ein eindeutiges Ja zur Verfassung sagen wird, weil es eine europäische Entscheidung ist. Die Französinnen und Franzosen treffen keine innenpolitische.

    Adler: Zeigt die Erfahrung mit Frankreich, dass es also doch besser ist, kein Referendum zu veranstalten, weil man die Dinge besser voneinander trennen kann?

    Fischer: Nein, es gibt unterschiedliche politische Traditionen. Frankreich ist ein Zentralstaat mit einer völlig unterschiedlichen politischen Kultur. Dort hat das Referendum sozusagen als Balance zu der starken Zentralisierung von Macht ganz offensichtlich eine wichtige Funktion. Wir sind ein föderales System mit einer relativen schwachen zentralen Macht. Unsere Länder haben Staatscharakter, die Landtagswahlen sind nicht Regionalwahlen, sondern haben über den Bundesrat eine völlig andere, sozusagen auch machtpolitische Bedeutung. Bei uns wird das Volk viel öfter befragt als in Ländern vergleichbarer Größenordnung, die zentralstaatlich organisiert sind. So haben sich unterschiedliche Traditionen heraus gebildet. Ich halte nichts davon, das eine sozusagen als besser und das andere als schlechter darzustellen. Europa, das ist die Vielfalt in der Einheit, und das reflektiert sich auch in den unterschiedlichen politischen Traditionen.

    Adler: Die Bürger werden in Deutschland befragt, nächste Woche in Nordrhein-Westfalen in den Landtagswahlen. Die Prognosen für Rot-Grün sehen ein bisschen besser aus. Nach der Infratest-Dimap-Prognose hat die SPD zwei Punkte mehr bekommen. Es sieht dennoch schlecht aus für Rot-Grün: 45 Prozent jetzt gegenwärtig gegen 50 Prozent CDU/FDP. Was ist, wenn Nordrhein-Westfalen tatsächlich scheitert, wenn Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen scheitert. Heißt es dann, Rot-Grün im Bund ist perdu?

    Fischer: Also, erst mal sieht es nie schlecht aus vor Schließung der Wahllokale. Das ist - ich sage das nicht, um es abzuwerten - meine Erfahrung. Und in Nordrhein-Westfalen ist Luft drin. Es sind sehr viele Uunentschiedene, wenn ich den Zahlen trauen darf. Das heißt, es werden viele relativ spät entscheiden, ob sie wählen gehen und wenn ja, wen sie wählen werden. Insofern habe ich überhaupt keinen Anlass, mich da in Spekulationen zu ergehen oder gar die Flinte ins Korn zu werfen. Im Gegenteil, gerade das Gegenteil ist notwendig. Man muss es jetzt auf demokratische Art und Weise nutzen. Und ich bin nächste Woche im Wahlkampf, und wir werden alles versuchen, mit den Möglichkeiten, die da sind, die Stimmung zu drehen und die wirklich bis zum letzten Augenblick auszunutzen. Und insofern - was wäre wenn: Sie wissen ganz genau, Sie werden kaum einen Politiker finden, der Ihnen das beantwortet. Dafür gibt es die edle Zunft der Medien, die jeden Tag spekulieren.

    Adler: Ganz genau, und das wollen wir trotzdem machen. Sollte es tatsächlich dazu kommen, heißt es dann: Neuwahlen, vorgezogene Neuwahlen, Große Koalition im Bund?

    Fischer: Ich spekuliere darüber überhaupt nicht. Wir haben ein Mandat bis Herbst nächsten Jahres. Für mich ist entscheidend, dass wir in Nordrhein-Westfalen die Möglichkeiten, die da sind, um die Stimmung zu drehen und damit Peer Steinbrück als Ministerpräsident mit einer rot-grünen Mehrheit bestätigt zu bekommen, zu nutzen.

    Adler: Was könnte das für Sie persönlich bedeuten, wenn das Projekt Rot-Grün tatsächlich scheitern würde?

    Fischer: Sie führen hier eine Diskussion, die ist hochspekulativ. Und insofern ist für mich gar nicht das Problem, was würde ich tun, wenn Rot-Grün scheitern würde, sondern eher, dass ich so langsam in die Jahre komme. Ich gehe davon aus, dass in unserem politischen System die Dinge bei Wahlen entschieden werden. Und ich habe mir im Bundestag die Reden mal sehr sorgfältig angehört der präsumtiven Nachfolger. Ja, wenn die Deutschen das wollen, dann werden sie so entscheiden. Aber ich glaube, da wird sich noch mancher wundern, der heute schon sozusagen die Büros möbliert. Das war ja 2002 ebenfalls schon der Fall. Also schauen wir mal, warten wir in Ruhe ab.

    Adler: Es gibt noch eine Parallele zu 2002. 2002 ist im Wahlkampf die Einstellung gegen den Irak-Krieg ganz klar instrumentalisiert worden. Passiert jetzt das selbe mit der Kapitalismuskritik von Franz Müntefering, dem SPD-Vorsitzenden?

    Fischer: Das sehe ich nicht so. Man mag da über Formulierungen streiten, aber Franz Müntefering in die Ecke des Antisemitismus zu stellen, halte ich für abwegig. Nein, ich halte auch generell nichts davon, dass man Privat Equity-Firmen - die machen manchmal sehr sinnvolle Dinge, manchmal weniger - dass es eine Diskussion über Managergehälter gibt – natürlich, wenn Sie sich das anschauen. Jetzt lesen Sie, da wird ein Börsenchef durch die Anteilseigner gekippt, und das heißt dann zehn Millionen. Das ist normalen Menschen nicht darstellbar, dass hinterher dann sozusagen in Ausfüllung dieses Vertrages diese Summen dann fließen. Das gilt aber auch bei Sportgrößen oder im Showbereich.

    Adler: Aber noch mal zurück zu der Frage: Kapitalismuskritik, die ja offenbar - das zeigt die Debatte - auf der einen Seite wirklich die Menschen berührt, trifft, sie auch in ihren Sorgen abholt, die sie haben, Sorgen um den Arbeitsplatz, um die pure Existenz, auf der anderen Seite die Wirtschaft vergrätzt. Wird da etwas instrumentalisiert?

    Fischer: Bei dem Begriff Kapitalismuskritik, daran merke ich doch, dass ich sehr alt bin. Da kenne ich mich aus. Keiner sagt mir, was Kapitalismuskritik eigentlich wirklich bedeutet. Es gibt eine moralische Dimension bei Managergehältern. Das Wichtigste ist, wie sieht soziale Gerechtigkeit unter den Bedingungen der Europäisierung und Globalisierung aus? Das ist aber für mich nicht Kapitalismuskritik im klassischen Sinne, sondern es ist positiv: Die Gestaltung der Gerechtigkeit. Und das ist, was die meisten Menschen wollen. Und da beginnt dann meines Erachtens der richtige parteipolitische Streit. Herr Westerwelle möchte die gesetzliche Krankenversicherung abschaffen. Ich bin aus Überzeugung Mitglied in einer gesetzlichen Krankenversicherung, weil ich an ein solidarisches Gesundheitssystem glaube, von dessen Notwendigkeit ich zutiefst überzeugt bin. Ich bin gegen eine Kopfpauschale. Ich bin für die Bürgerversicherung. Diese Solidarität, die möchte ich erhalten haben. Ich möchte nicht, dass wir in den wichtigen Leistungen der Gesundheit in ein Zwei-Klassen-System hineinlaufen. Das sind Dimensionen, die werden wir unter den neuen Bedingungen herstellen müssen. Ich wünsche mir auch starke, selbstbewusste Gewerkschaften. Ich gehöre überhaupt nicht zu denen, die meinen, Arbeitnehmervertretungen wären von gestern, was die Betriebsräte bei Karstadt, bei Opel geleistet haben, aber auch vielgeschmähte Organisationen wie ver.di, die sich extrem verantwortlich verhalten haben, als das Management das Unternehmen gegen die Wand gefahren hat. Das ist, worum es geht. So verstehe ich Franz Müntefering. Wir brauchen Investitionen, ohne jeden Zweifel. Jede Investition steht auch unter der politischen Prüfung. Es gibt Leute, die verhalten sich verantwortlich, die überwiegen. Es gibt einige, die verhalten sich nicht verantwortlich, die werden kritisiert. So ist das in einer offenen Gesellschaft.

    Adler: Wenn wir uns den Ton jetzt im Wahlkampf anschauen. Letztlich ist das Ganze ja schon ein Vorgeschmack auf den Bundestagswahlkampf im nächsten Jahr. Man hat das Gefühl, der Ton ist sehr rau, es wird wirklich scharf geschossen. Einen ganz großen Teil der Munition bekommen Sie ab, jetzt gerade aktuell im Visa-Ausschuss. Was macht das mit Ihnen? Das geht ja wahrscheinlich nicht spurlos vorüber?

    Fischer: Jetzt wollen wir nicht übertreiben. Ich bin schon hart im Nehmen, aber auch im Austeilen. Das werden die schon noch merken. Und ich gehöre nicht zu denen, die sich darüber beschweren, wenn sie, im übertragenen Sinne des Wortes, durchgeprügelt werden. Die zwölfeinhalb Stunden hatten die jede Gelegenheit, und sie haben sie nicht genutzt. Und dann werden ihnen auch Umwege, wohin auch immer, nichts bringen. Aber was auffällt, ist natürlich, dass es direkt auf die Person geht. Wenn man da schwer rankommt oder nicht rankommt, dann versucht man es darüber. Es wird nicht aufgehen. Insofern kann ich Ihnen nur sagen, ich teile aus, aber ich stecke auch ein. Und das gibt einen richtigen Pressschlag, wie man beim Fußball sagt. Und da habe ich ein Prinzip: Ich habe nie zurückgezogen. Wenn es uim Pressschlag ging - immer voll durchgezogen. Das ist mein Prinzip. Jeder Fußballer kennt das, denn ansonsten ist die Verletzungsgefahr zu groß.

    Adler: Es gibt, Sie haben es gerade gesagt, sehr wohl noch den Umweg, der mit Sicherheit von der Opposition gegangen wird. Das ist natürlich der Umweg über die EU-Kommission. Justizkommissar Frattini ist dabei, zu prüfen. Erste Hinweise gibt es, dass möglicherweise der Vollmer-Erlass, den Sie ja jetzt Fischer-Erlass nennen, seit dem Untersuchungsausschuss, seitdem Sie vernommen worden sind, dass dieser Vollmer-Erlass - bleiben wir mal bei diesem alten Namen - möglicherweise doch nicht kompatibel ist mit den Schengen-Vereinbarungen, mit den Vorschriften in Bezug auf die Prüfung der Rückkehrwilligkeit. Kann da noch mehr kommen?

    Fischer: Auch da müsste ich jetzt spekulieren, Sie müssen schon präzise sein. Wenn ich richtig informiert bin, bezog er sich auf die beiden Bezugserlasse, die im Vollmer-Erlass drin waren, die ich selbst kritisiert habe vor dem Ausschuss. Insofern frage ich da: Wo ist die Neuigkeit? Dass die Union über die EVP Himmel und Hölle in Bewegung setzt, das zeigt doch nur, wie wenig sie hier erreicht haben. Jetzt lassen wir das mal in Ruhe prüfen. Wir haben eine klare Rechtsauffassung, und dabei werden wir bleiben.

    Adler: Sie persönlich haben auch ziemlichen Schaden erlitten. Wenn wir uns die Popularitätswerte angucken, da gibt es große Einbrüche und es gibt vor allem natürlich auch viel Häme, die da in die Richtung geht: Der Fischer ist vom Denkmal gestürzt. Empfinden Sie es genau so?

    Fischer: Nein, weil ich mich nie als Denkmal gesehen habe. Gott bewahre! Warten wir doch mal ab, wie die Dinge ausgehen. Ich frage mich eher, warum die Medien, die ja offensichtlich diese Denkmals-These, die Gott-Vater-These oder ähnliches wirklich geglaubt haben. Anders kann ich mir das gar nicht vorstellen, wie man da drauf kommen kann. Ich habe mich immer als einen fehlbaren Menschen aus Fleisch und Blut begriffen, mit Fähigkeiten und auch Defiziten, wie das bei jedem Menschen der Fall ist. Es ist schön, wenn man in den Popularitätswerten so hoch ist. Und bei aller Bedeutung, die Umfragen haben und auch die tägliche Schlagzeile: Entscheidend sind die Wahlergebnisse.

    Adler: Blicken wir noch mal zurück auf den Wochenbeginn, auf die Ereignisse seit Anfang Mai. Sie standen völlig im Zeichen des 60. Jahrestages des Kriegsendes. Das Ganze fand seinen Abschluss - ich würde nicht sagen, dass es gekrönt wurde, aber es fand seinen Abschluss - mit den Feierlichkeiten am 9. Mai in Moskau mit einer sehr sowjetischen Parade. War diese Parade, diese Art, diesen 60. Tag des Sieges zu feiern in Moskau, ein Hinweis darauf, dass Russland verpasst hat, mit seiner eigenen Geschichte umzugehen?

    Fischer: Ich habe einen sehr guten Freund, der ist mit einer Russin verheiratet. Und der berichtete, wie seine Frau, eine moderne, europäische Russin, an dem Tag auf die Fernsehübertragung reagiert hat. Das ist mehr als Sowjetunion gewesen, das sitzt tief. Ich selber habe den Tag des Überfalls im Jahre 2000 in der Ukraine in Kiew verbracht. Das sitzt alles sehr, sehr tief im Volk. Russland hat einen sehr schmerzhaften Weg vor sich. Gleichzeitig müssen sie sich darauf einstellen auf dieses erweiterte, neue Europa mit den Balten, den Polen - auch eine sehr schwierige, komplexe Geschichte, um es mal ganz diplomatisch zu formulieren. Aber die Perspektive ist, wir brauchen sehr gute Beziehungen zu Russland, auf der Grundlage allerdings der Prinzipien des neuen Europa.

    Adler: Nun kann man ja Deutschland eines nicht nachsagen, nämlich dass es nicht etwa gute Beziehungen hätte zu Russland. Die Beziehungen sind bestens. Es gibt eine persönliche Freundschaft zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem russischen Präsidenten Putin. Macht Sie sozusagen der Umstand, dass der Bundeskanzler die Russlandpolitik zur Chefsache macht, in Bezug auf Russland als Außenminister arbeitslos?

    Fischer: Nein, überhaupt nicht, wie auch in allen anderen Bereichen nicht. Es ist ein großer Irrtum. Die Außenpolitik wird gemeinsam gemacht. Und gerade in der Ukraine-Krise konnten Sie sehen, wie wichtig das ist. Insofern, es kommt immer wieder so zyklisch. Mal bin ich es, dann ist es der Bundeskanzler, der jeweils nichts oder wenig zu tun hat. Wir arbeiten wirklich sehr gut in dem Punkt zusammen, die gemeinsame Außenpolitik umzusetzen.

    Adler: Ist es für Deutschland nicht eine besondere Verpflichtung, aufgrund des guten Zugangs zum russischen Präsidenten, des engen Verhältnisses auch der beiden Völker, dass wir unsere freundschaftliche Verbindung nutzen, um eben dann auch kritisieren zu können, wo es notwendig ist?

    Fischer: Sie sagen gerade, das wird nicht getan. Ich weiß vom Bundeskanzler, ich weiß es von mir - Stunden manchmal - ich weiß von anderen Politikern, dass offen gesprochen wird. Auf der anderen Seite müssen Sie aber auch die russischen Realitäten in Rechnung stellen. Es macht sich leicht in der deutschen Innenpolitik. Das ändert aber nichts. Ich möchte das nicht für gering veranschlagen. Die Gespräche mit der russischen Seite sind sehr offen, sehr nachdrücklich. Aber gleichzeitig müssen wir sehen, dass wir jedes Interesse daran haben, dass dieses große Russland einen mühseligen Weg voran findet. Oft ist es schwierig, auch Antworten zu geben. Wenn Sie sich die Situation im Kaukasus anschauen. Nehmen Sie nur mal die Ukraine-Krise im letzten Dezember nach den gefälschten Wahlen. In der entscheidenden Phase hat sich doch gezeigt, dass dieses Europa - und Deutschland hat hier im Hintergrund wichtige Beiträge geleistet, auch und gerade der Bundeskanzler in seinen beiden Telefonaten mit Putin. Das ist doch der Beweis, dass diese schlichte Zuordnung ‚kritisiere oder sei befreundet’ einfach nicht die Alternative ist, nicht zutrifft.

    Adler: Wenn wir schauen, im September soll das erste Ergebnis der Reform der Vereinten Nationen ja so einigermaßen sichtbar werden. Sie sind persönlich, - Deutschland ist ganz stark in seinem Engagement, - für einen ständigen Sitz Deutschlands im Weltsicherheitsrat. Wird dieses Bemühen von Erfolg gekrönt sein?

    Fischer: Da kann ich Ihnen heute beim besten Willen - nicht, weil ich es nicht will - keine verlässliche Prognose geben. Wir hätten uns um diesen Sitz aktiv nicht beworben. Das war nicht auf der Prioritätenliste ganz oben. Aber als Kofi Anan nach der Irak-Krise den Reformanstoß gemacht hat, war völlig klar, dass eine der Hauptsäulen des Multilateralismus, nämlich Deutschland, einer der Hauptbeitragszahler und mittlerweile auch einer der Haupttruppensteller, und wie wir in der Tsunami-Krise gesehen haben, auch ein ganz wichtiger globaler Faktor - wir wachsen da mehr und mehr rein, übrigens völlig unabhängig, ob permanentem Sicherheitsratssitz oder nicht, wir werden aufgrund unserer Rolle in Europa, aufgrund des Gewichts unseres Landes und aufgrund der Verantwortung, die daraus erwächst, hineinwachsen in diese größere Herausforderung. Das hängt nicht am ständigen Sitz. Aber klar war, wenn wir nein gesagt hätten, dann wäre sofort von all jenen, die die Reform nicht wollen und die vor allen Dingen auch keine stärkere VN wollen, gesagt worden, selbst die Deutschen, Nummer Eins des Multilateralismus und Stützung der VN, wollen nicht mehr - was soll dann diese Reform? Wir sind nach dem Bericht der unabhängigen Expertenkommission heute weiter denn je.

    Adler: Sie haben ein Stichwort gegeben: Irak. Dort ist es ja trotz der Vereidigung der neuen Regierung, die immer noch nicht vollständig ist, aber immerhin mit dem Voranschreiten des demokratischen Prozesses trotzdem nicht zu einem Nachlassen der Terroranschläge gekommen. Was muss man tun, um dem Irak zu mehr Stabilität zu verhelfen?

    Fischer: Das ist eine schwierig zu beantwortende Frage, weil es im Grunde genommen nur die eine Alternative gibt:, zu versuchen, diesen Terror zurückzudrängen. Und das wird sehr lange dauern. Sie wissen, wir waren gegen diesen Krieg, wir meinen, mit guten Gründen. Aber nachdem die Entscheidung gefallen war, war klar, dass es nur noch Erfolg als Option geben kann. Insofern beteiligen wir uns, ohne Soldaten in den Irak zu schicken. Das werden wir nicht tun. In Polizeiausbildung, in Militärausbildung außerhalb. Während werden andere noch diskutieren, handeln wir.

    Adler: Zusammen mit Frankreich, mit Großbritannien ist Deutschland darum bemüht, den Iran von der Wiederaufnahme des Atomprogramms abzubringen. Gerade in diesen Tagen gab es einen herben Rückschlag mit der Ankündigung, dass die Urananreicherung doch aufgenommen werden soll. Wird der Fall Iran der nächste sein, der vor dem Weltsicherheitsrat landet?

    Fischer: Das hängt vom Iran ab. So lange im Iran alle Anreicherungsaktivitäten und damit zusammenhängenden Aktivitäten unterbleiben, ist die Grundlage für die Fortsetzung des Prozesses gegeben.

    Adler: Ende des Monats wird der israelische Präsident nach Deutschland kommen, wird vor dem Bundestag sprechen. Wir haben zurückgeblickt in dieser Woche auf 40 Jahre Wiederaufnahme der deutsch-israelischen Beziehungen. Wie beurteilen Sie diese Beziehungen? Wie beurteilen Sie möglicherweise auch die Chancen - zwei Fragen, ich gebe es zu - die Chancen, dass es im Nahen Osten tatsächlich zu Frieden kommen kann?

    Fischer: Erst mal: Die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel werden immer etwas Besonderes sein. Sie sind definiert durch den durch unser Land zu verantwortenden Mord an den europäischen Juden, durch die Shoa. Wer meint, das würde vergessen oder gar vergeben, der irrt.
    Die Lage im Nahen Osten im israelisch-palästinensischen Konflikt: Ich meine, für beide Seiten - die Palästinenser bereiten sich auf die Wahlen vor und in Israel ist der Gaza-Abzug - eine große Herausforderung. Und hier muss die internationale Gemeinschaft alles tun, um im Rahmen der Roadmap mit den Palästinensern und mit den Israelis diesen Gaza-Abzug zu einem Erfolg zu machen und gleichzeitig dann die nächsten Schritte entsprechend umzusetzen. Mein Eindruck ist der, dass eben beide Seiten gewaltige innenpolitische Probleme auch haben. Insofern bedarf es hier wirklich des Engagements der internationalen Gemeinschaft, hier vor allen Dingen der USA und Europa im Rahmen des Nahost-Quartetts.

    Adler: Herr Außenminister, ich danke Ihnen für das Gespräch.