Dienstag, 07. Mai 2024

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Fischler: Für den Einzelnen gibt es konkrete Verbesserungen

Der EU-Reformvertrag bringt nach Ansicht des früheren EU-Kommissars Franz Fischler den modernsten und umfassendsten Grundrechtskatalog der Welt. Dennoch stehe die Europäische Union auch weiterhin vor großen Herausforderungen. Wichtig sei es, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren, Europa als Wirtschaftsmacht voranzubringen und die Union außenpolitisch besser aufzustellen.

Moderation: Christian Schütte | 13.12.2007
    Schütte: Die EU ist jetzt näher an ihren Bürgern. So hieß es schon gestern, nachdem die Grundrechte-Charta feierlich verkündet wurde. Sie soll mit dem Reformvertrag in Kraft treten, den die Staats- und Regierungschefs heute in Lissabon unterzeichnen. Was denken die Bürger von der EU? Welche Hoffnungen und Erwartungen haben sie?

    O-Töne Bürger: "

    Einiges würden wir uns wünschen, dass wir vor allen Dingen wieder mal alleine machen könnten was wir wollten und nicht alles von der EU vorgeschrieben bekommen, wie wir es zu machen haben und was wir zu bezahlen haben vor allen Dingen.

    Da wird beschlossen, wie die Radieschen sein müssen. Da denke ich arbeitet die EU häufig an den einzelnen Länderparlamenten vorbei.

    Ich möchte eigentlich, dass es so weitergeht, dass die EU mehr zusammenwächst.

    Ich erhoffe mir von Europa ein bisschen das Abheben von den nationalen Dingen, wo die Lobbyisten das Sagen haben. In Europa sind die Lobbyisten hoffentlich noch nicht so ganz angekommen.

    dass was für die Kinder getan wird, das wünsche ich mir eigentlich von der EU.

    Etwas mehr Demokratie und etwas mehr Bürgernähe.

    dass wir wieder selbständiger irgendetwas machen können.

    Einen besseren Zusammenhalt, dass wir uns mehr den anderen Ländern anpassen und nicht immer noch diese Differenzen zwischen diesen einzelnen Ländern haben.

    Wenn sie die Grenzen aufmachen, dass sie dann trotzdem dementsprechend die Grenzen überwachen, dass nicht nur alles nach Deutschland reinströmt, sondern dass es überwacht wird, was nach Deutschland reinströmt.

    Ich komme aus Belgien. Da herrscht keine Einheit. In Europa soll auch Einheit herrschen. Das wäre schon mal besser.

    Was wünscht man sich von Europa? - Ich wünsche mir den Euro wieder weg! So einfach ist die Sache.

    Ich weiß noch, wie ich die ersten Jahre nach Belgien und Holland gefahren bin und man hat sich plötzlich als Europäer verstanden, gerade wir Deutschen mit unserer Geschichte. Das wünsche ich mir eigentlich, dass dieser Gedanke in allen europäischen Köpfen ist.

    Schütte: Mitgehört hat Franz Fischler aus Österreich, der frühere EU-Kommissar und Autor des Buches "Europa - der Staat, den keiner will". Guten Morgen Herr Fischler!"

    Fischler: Guten Morgen!

    Schütte: Bundeskanzlerin Merkel sagt, der Reformvertrag von Lissabon lässt keine Fragen offen. Aber welche Wünsche, vor allem Wünsche der EU-Bürger - und wir haben einige gerade gehört - bleiben denn aus Ihrer Sicht auch mit Lissabon unerfüllt?

    Fischler: Es gibt natürlich eine ganze Reihe von Wünschen, die da unerfüllt werden oder bleiben müssen, weil ganz einfach auch die Wünsche zu verschieden sind. Man kann nicht alles in einem Vertrag regeln. Man darf auch diesen neuen Vertrag nicht so betrachten, als ob da jetzt eine neue EU erfunden worden wäre. Es ist ein bisschen mehr, wie wenn man eine Wohnung neu ausmalt und dort wo die Türen klemmen das repariert. Man fühlt sich dann in dieser neu ausgemalten Wohnung wohler und es funktioniert auch besser, aber es ist nicht eine völlig andere oder völlig neue Wohnung.

    Schütte: Die EU sei - so heißt es ja trotzdem - jetzt näher am Bürger dran, sagen Politiker. Was konkret ändert sich denn für die EU-Bürger durch den neuen Vertrag?

    Fischler: Was sich konkret ändert - und das trägt auch zu einem gewissen Grad den Meinungen, die wir vorher gehört haben, Rechnung - ist, dass tatsächlich die Selbständigkeit der Mitgliedsstaaten durch die Verstärkung des Subsidiaritätsprinzips verstärkt wird. Das heißt es ist nicht mehr so, dass einfach in Brüssel neue Gesetze gemacht werden können, sondern es muss in jedem Fall nachgewiesen werden, dass eine Brüsseler, eine europäische Regelung notwendig ist.

    Zum zweiten ändert sich für den einzelnen Bürger vor allem eines, nämlich wir haben mit diesem Vertrag den modernsten und umfassendsten Grundrechtskatalog der Welt und die Möglichkeit, dass die Bürger, wenn sie sich in ihrem Recht in Bezug auf ihre Grundrechte verletzt fühlen, auch vor dem Europäischen Gerichtshof klagen können. Darüber hinaus gibt es auch für den einzelnen eine bessere Vertretung. Zum Beispiel in jenen Staaten, wo der eigene Staat keine diplomatische Vertretung hat, kann man die EU-Vertretung in Anspruch nehmen. Also es gibt da ganz konkrete Verbesserungen.

    Schütte: Sie haben die Grundrechte-Charta angesprochen. Nun haben Großbritannien und Polen aber durchgesetzt, dass ihre Bürger nicht vor den Europäischen Gerichtshof ziehen dürfen. Was ist ein Recht wert, das man nicht einklagen kann?

    Fischler: Das ist ein Problem für die Briten, aber nicht ein Problem für die Deutschen. Die Deutschen können das Recht einklagen. Das Problem ist, dass man sich in Großbritannien und in Polen ausbedungen hat, dass nicht die gesamten Grundrechte gelten, sondern ein Teil davon, nämlich die sozialen Rechte, ausgenommen werden. Ehrlich gesagt ich verstehe das nicht, aber das ist etwas, was die britische Regierung mit ihren eigenen Bürgern ausmachen muss.

    Schütte: Globalisierung, Arbeitslosigkeit, soziale Nöte, Terrorismus, das sind auch Sorgen der EU-Bürger. Inwiefern kann die EU durch den Reformvertrag hier jetzt bessere Antworten finden?

    Fischler: Was das letztere betrifft, was die innere Sicherheit der Bürger betrifft, hier bringt dieser Vertrag einen Riesenfortschritt, und zwar vor allem deshalb, weil die Gesetzgebung in diesem Bereich neu geregelt wird, weil es jetzt nicht mehr so ist, dass jeder einzelne Mitgliedsstaat jeden Fortschritt in diesem Bereich behindern kann. Da glaube ich wird es in der Zukunft zügigere Entscheidungen geben.
    Was die Arbeitsplätze anbetrifft, was die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, neue Technologien und so weiter angeht, alles das, was auch mit dem Wort Lissabon zu einem gewissen Grade in Verbindung steht, weil man immer von den Lissabon-Zielen gesprochen hat, das ist jetzt gewissermaßen noch zu liefern. Was wir jetzt mit dem Vertrag haben ist sozusagen eine Struktur und ein Gerüst, mit dem wir neue Politik besser machen können. Diese neue bessere Politik in Richtung mehr Jobs, die muss jetzt folgen. Wenn das der Europäischen Union nicht gelingt, dann wird gleich oder sehr rasch die Frustration in der Bevölkerung wieder steigen.

    Schütte: Dem EU-Vertrag fehlt die Symbolik. Es gibt keine Festlegung auf eine Flagge und auf eine Hymne. Auch das Wort "Verfassung" wurde gestrichen. Sie selbst sprechen von einem Gerüst, von einem Vertragsgerüst. Warum ist Europa weiterhin der Staat, den keiner will?

    Fischler: Weil man Europa nicht als einen Staat will. Genau diese Symbole und die Bezeichnungen, die man aus dem Vertrag gestrichen hat, sind alles Symbole und Hinweise darauf, dass die Europäische Union ein staatsähnliches Wesen werden könnte. Genau das haben die Regierungschefs verlangt, dass es herausgestrichen wird, und zwar vor allem gerade deshalb, weil eben die Kritik in den Mitgliedsstaaten so groß ist, weil natürlich diese Symbole auch signalisieren, dass die Europäische Union dominanter wird gegenüber den Einzelstaaten. Das will man nicht und dem hat man Rechnung getragen. Also kann man jetzt nicht hinterher wieder sagen, anders wäre es vielleicht besser.

    Schütte: Dennoch gibt es ja kritische Stimmen die sagen, das ist alles sehr, sehr mutlos. Wer hat denn noch Visionen von Europa?

    Fischler: Ich glaube durchaus, dass es Leute gibt, die Visionen haben. Ich glaube auch, dass man dieses Geschehen, wie der Vertrag zu Stande gekommen ist, ein bisschen so sehen muss, dass da sehr viel Sand ins Getriebe der Europäischen Union geraten ist. Den hat man jetzt herausgeputzt. Jetzt kann die Maschine sozusagen wieder laufen. Aber jetzt muss auch die Maschine produzieren. Das ist eigentlich das, was die Bürger jetzt erwarten.

    Schütte: Worin bestehen aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen?

    Fischler: Die größten Herausforderungen bestehen aus meiner Sicht sicher nach wie vor, auch wenn das momentan durch die gute Konjunktur ein bisschen verdeckt wird, in der Frage der Arbeitsplätze und wie man Europa als wirtschaftliche Weltmacht voranbringen kann, zweitens das neue Thema, das übrigens auch in den Vertrag zum Schluss noch hineingeschrieben worden ist, nämlich wie man mit dem Klimawandel umgeht und wie man eine vernünftige Energiepolitik gestaltet, und das dritte - und darauf gibt eigentlich der Vertrag sehr wenig Antwort -, ich glaube wir müssen wieder beginnen, darüber zu diskutieren, wie man besser Europa in der Welt außenpolitisch repräsentieren kann.

    Schütte: Franz Fischler, früherer EU-Kommissar, heute Präsident des ökosozialen Forums Österreich. Vielen Dank für das Gespräch.

    Fischler: Danke!