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Fischsuppe und unappetitlichen Details

In "Feuchtgebiete" geht es um Hämorrhoiden und Hygiene, um Liebeskummer und kalkulierten Tabubruch. Edgar Selge spielt in dem Film Professor Doktor Notz, den behandelnden Arzt der 18-jährigen Hauptfigur Helen Memel, und sagt: "Natürlich ekle ich mich!"

Von Barbara Schmidt-Mattern |
    "Sie haben da ein Gewürz drin, das ist ganz besonders, ist das Oregano?"

    Edgar Selge widmet sich an diesem Abend zunächst den schönen Dingen des Lebens. Bevor er gleich über ein Buch und einen Film mit ganz unappetitlichen Details sprechen wird, lässt er sich vom Koch einer bekannten Kölner Weinstube erzählen, was in der Bouillabaisse schwimmt:
    "Die Brühe vom Oktopus, die wir abkochen, für den Salat. Dann sind da Oliven drin, ein bisschen Gemüse, und verschiedene Fischsorten."

    Die Suppe wird bestellt – und dann geht’s los. Ein Gespräch über den Roman "Feuchtgebiete" von Charlotte Roche, ab heute als Film in den Kinos. Es geht um Hämorrhoiden und Hygiene, um Liebeskummer und kalkulierten Tabubruch. Edgar Selge spielt den Professor Doktor Notz, den behandelnden Arzt der 18-jährigen Hauptfigur Helen Memel:

    "Natürlich ekle ich mich! Aber jede Erfahrung von Ekel heißt doch nicht, dass man Mauern aufrichten muss und sich in seinem Ekel ständig nur bestätigt. Das muss man einmal erfahren und verarbeitet haben, um mit widersprüchlichen Empfindungen umzugehen."

    München, Berlin, jetzt Stuttgart – als Theater und Filmschauspieler ist der 65-jährige Grimme-Preisträger hoch angesehen. Doch dass Selge jetzt in den "Feuchtgebieten" mitspielt, ruft auch Widerspruch hervor:

    "Ich habe gerade heute wüste Beschimpfungen übers Internet bekommen, die mich damit strafen werden, dass sie künftig alle Filme von mir abschalten, weil sie das unverzeihlich finden, dass ich daran überhaupt teilnehme."

    Dabei sind ihm skurrile, neurotische Charaktere nicht unvertraut – Selges einarmiger kauziger Kommissar Tauber aus dem Münchner Polizeiruf hat bis heute viele Fans. Und in den "Feuchtgebieten" zählen die Szenen mit dem Proktologen Professor Notz zu den lustigsten:

    "Na ja, er drückt die Eiterblase aus, die sich da gebildet hat, weil die auch schmerzhaft ist. Und er macht es sehr professionell und übereifrig. Spritzt sich dabei ein bisschen was ins Auge. Was auch sicher passieren kann, was ihm aber, glaub ich, nicht so unangenehm ist - weil er das (lacht) einfach jeden Tag macht. Ja, kommen Sie, ja natürlich. Selbstverständlich."
    Kellnerin:" Wer bekommt das Pfifferlingssüppchen?" Jetzt die Bouillabaisse?"

    Selge:" Ja." (grinst)

    Zwischendurch wird die Fischsuppe serviert, doch Edgar Selge bittet ausdrücklich darum, das Interview während des Essens fortzuführen.

    "Sie können ruhig weiterfragen. Ich leg den Löffel ab. Wollen Sie mal probieren?"

    Mit rund 2,5 Millionen verkauften Exemplaren stand der Roman "Feuchtgebiete" 2008 wochenlang auf Platz Eins der deutschen Bestseller-Listen, ungeachtet aller Tabubrüche. Die seien im Übrigen gar nicht so ungewöhnlich in der deutschen Literatur, meint Edgar Selge:

    "Das gibt es schon bei Romanen von Genet. Man hat dem Goethe auch vorgeworfen, dass er im Werther aufruft zum Selbstmord. Dass Menschen von vornherein bei Tabubrüchen sagen, darüber darf nicht gesprochen werden – damit darf nicht gespielt werden, dazu habe ich keinen Zugang. Ich spiele die ganze erste Szene im "Zerbrochenen Krug" als Dorfrichter Adam nackt auf den Garderobentischen, und das ist aber Komödie. Für mich ist Nacktheit Kostüm!"

    Mit all der Ironie und den hemmungslosen Übertreibungen galten die "Feuchtgebiete" eigentlich als unverfilmbar, doch beim Filmfest in Locarno waren die meisten Kritiker und Zuschauer jetzt begeistert über dieses humorvollsensible Porträt eines jungen Mädchens.

    "Wer sensibel und aufmerksam liest, kann sich Frau Roche dahinter vorstellen als eine Frau mit einer sehr verletzlichen und komplizierten Biografie."

    Ihr Alter Ego, Helen Memel, ist ein Scheidungskind, das sich im Film sehnlichst wünscht, seine Eltern – großartig gespielt von Meret Becker und Axel Milberg – wieder zusammenzubringen. Ein Film also über Schmerz und Wunden. Eine Herausforderung für den bekennenden Hypochonder Edgar Selge:

    "Darüber hab ich Gott sei Dank nicht nachgedacht. Ich bin Hypochonder in dem Sinne, dass, wenn es kalt ist oder ich nass werde und abends eine Premiere habe oder eine Vorstellung, dann denke ich sofort, die Stimme macht zu, und ich krieg Halsschmerzen. Und das stellt sich auch richtig ein, ich bin dann auch richtig erkältet. Bis ich auf der Bühne bin und das Maul aufmache, und dann ist's weg."