Zahlreiche international tätige Kuratoren haben in den letzten Tagen einen offenen Brief an den flämischen Ministerpräsidenten Jan Jambon gerichtet, um ihn von den Mittelkürzungen abzubringen, den die neue von der Neu-Flämischen Allianz geführte Regionalregierung für die Bühnenkultur vorsieht. Einer der Unterzeichner ist Christophe Slagmuylder. Er war bis vor kurzem Leiter des Brüsseler Kunstenfestival-des-Arts und ist ein intimer Kenner der flämischen Szene: "Auf dieses Signal müssen wir sofort reagieren. Denn das, was Flandern in den letzten 40 Jahren in der Kulturpolitik geleistet hat, ist für Europa vorbildlich. Wir müssen kämpfen, um das zu erhalten."
Flämische Avantgarde angegriffen
Christophe Slagmuylder, der heute die Wiener Festwochen leitet, unterstützt eine Bewegung von Kulturarbeitern, die in einer groß angelegten Unterschriftenaktion gegen eine Sparpolitik angeht, die kurzfristig, das heißt ab Januar 2020, den großen Bühnen drei bis sechs Prozent ihres Budjets streichen will, der freien Projektförderung aber 60 Prozent. Ein Zentrum des Widerstandes gegen den Ruin der freien Szene ist das NTGent mit dem Chefdramaturgen Stefan Bläske:
"Die Kürzungen von 60 Prozent in der freien Szene und in der Projektförderung in Flandern sind ganz besonders tragisch, weil genau dort ja die Avantgarde des europäischen Theaters zu Hause ist. Das ist seit Jahrzehnten so mit Alain Platel, mit Anne Teresa de Keersmaeker. Diese impulsgebenden Gruppen sind alle aus der freien Szene, und auch der aktuelle Nachwuchs ist extrem produktiv. Beim letzten größeren internationalen Festival in Deutschland, bei ,Spielart' in München, waren allein fünf Gruppen aus Gent eingeladen, eine von unserem NTGent und vier aus der freien Szene. Bei dieser künstlerischen Avantgarde zu streichen, ist ein sehr drastischer und absurder Schritt."
Bühnensektor besonders betroffen
Anne Teresa de Keersmaeker, aber auch Ivo van Hove, heute international bekannte Aushängeschilder der flämischen Kultur, werden von den Kürzungen kaum betroffen. Aber sie erinnern sich an die Anfänge ihrer künstlerischen Biografien: "Einst waren wir auch Projekte", schreiben sie in der Tageszeitung De Standaard. Jan Jambon, der in der neuen Regionalregierung auch das Kulturressort an sich gezogen hat, strebt einen ausgeglichenen Haushalt an und kürzt auch an anderer Stelle. In Bildung, in der öffentlichen Verwaltung usw. Im Kultursektor gibt er Film und Literatur, Museen und Archiven etwas mehr Geld, kürzt aber drastisch bei den Bühnenkünsten. Was das für junge Künstler bedeutet, weiß Christoph Slagmuylder:
"Für einen jungen Künstler, der noch keine feste Produktionsplattform hat, oder solche, die so etwas auch nicht anstreben, für all jene, die man in Deutschland die ,freie Szene' nennt, gibt es bei 60 Prozent Kürzungen keine Überlebenschance. Jan Jambons Politik zielt auf die Förderung der großen Namen und Institutionen, die Flandern im Ausland repräsentieren sollen. An der jungen Generation ist er völlig desinteressiert."
Anzeichen eines Kulturkampfes
Es geht nicht nur ums Geld: Eine "dumme Rache" konstatieren Journalisten, eine Abrechnung mit einer Szene, bei der Jambons Partei, die N-VA, nie besonders gut wegkam. Auch die HAU-Chefin, die Belgierin Annemie Vanackere, sieht hinter den Sparplänen eine ideologisch-politische Agenda. "Ich finde, dass das eine Art Kulturkampf ist. Dass da eine Gruppe attackiert wird, die nicht flämisch genug ist oder sich für den Zusammenhalt in Flandern einsetzt. Da zeigt sich ein sehr konservatives und auch ein nationalistisches Bild." 19 mal ist in der Koalitionsvereinbarung zwischen Jambons N-VA, den flämischen Christdemokraten und Liberalen von der "flämischen Identität" die Rede. Die rechtsnationalistischen Verfechter der flämischen Unabhängigkeit haben außer der Kultur auch die öffentlich-rechtlichen Medien im Blick, was Stefan Bläske beunruhigt:
"Man sieht ja, dass es nicht nur ums Theater geht und um die Künste, sondern die neue rechte Regierung streicht ja auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und Rundfunk. Es geht ganz klar gegen eine demokratisch verfasste und offene Gesellschaft."
Die flämische Kulturszene ist aufgemischt. Die Künstler organisieren große Meetings, wie jüngst im Brüsseler Kunsthaus Beursschouwburg mit über 2000 Menschen aus Kultureinrichtungen und Universitäten. Sie haben begriffen: In einer von Populisten polarisierten Gesellschaft sollen sie künftig nicht mehr dazu gehören.