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Flaggen im Aufwind

Bilder von Polizisten, die friedlich demonstrierende Frauen brutal niederschlagen bestätigen ein weiteres Mal die Kritiker des baldigen Beitritts der Türkei in die Europäische Union. Bis jetzt hatten die Ausschreitungen auf dem internationalen Frauentag nur gesetzliche Folgen für die geprügelten Frauen nicht für die prügelnden Polizisten. In die gleiche Kerbe schlägt die Nachricht, dass das Land in einen nationalen Flaggenrausch verfallen ist , nachdem zwei kurdische Jugendliche bei dem Versuch gefilmt worden waren, die türkische Fahne zu verbrennen.

Von Thilo Kößler |
    Eine Straße in Ankara. Autos quälen sich dicht an dicht eine steile Anhöhe hoch, Lastwagen stoßen dicke Dieselschwaden aus. An einer Kreuzung hat Kasim Seker seinen fliegenden Laden auf dem Gehsteig aufgebaut: Kämme, Haarspangen, Kaugummis, alles aufgereiht auf einer Decke. Darüber wehen auf einer Wäscheleine Dutzende von Fahnen - weißer Halbmond und weißer Stern auf rotem Grund. Kasim Seker bietet die türkische Nationalflagge in allen Größen an.

    "Seitdem kurdische Jugendliche in der Küstenstadt Mersin eine türkische Flagge verbrannten, gehen die Fahnen weg wie nichts,"

    erzählt der grauhaarige Mann im abgetragenen Blazer. Das ganze Viertel habe er damit versorgt. Der Flaggenprotest richte sich gegen alle, die die Türkei spalten wollten, sagt Seker auch gegen die EU.

    Seit dem Gipfeltreffen vom Dezember vergangenen Jahres, auf dem die europäischen Staats- und Regierungschefs grünes Licht für die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gaben, ist der Reformeifer in Ankara deutlich erlahmt. Mehr noch: Es hat eine ganze Reihe empfindlicher Rückschläge gegeben - und die Prügelszenen am Internationalen Frauentag in Istanbul sind dafür nur ein Beispiel, weiß Hansjörg Kretschmer, der EU-Botschafter in Ankara.

    Die Atmosphäre ist gespannt, der Beitritt zur EU längst nicht mehr so populär wie noch vor drei Monaten - nur noch 63 Prozent der Türken drängt es in die EU: Mehr und mehr wird der Reformprozess als Einmischung in innere Angelegenheiten gesehen. Die Forderung nach Anerkennung des Völkermords an den Armeniern stößt auf heftige Kritik in der Türkei. Und der europäische Druck in der Zypernfrage auf offenen Widerstand.

    Das alles habe zu einer Verzögerung des Reformprozesses geführt, sagt der Politologe Ihsan Dagi von der Nahost-Universität in Ankara. In dieser aufgeheizten Atmosphäre richte sich der Zorn gegen die Regierung, gegen die EU und gegen die Kurden gleichermaßen. In einer Art Abwehrreflex habe sich die türkische Öffentlichkeit in das alte Freund-Feind-Denken geflüchtet und sich um nationale Symbole geschart

    Die kurdischen Jugendlichen von Mersin, die vor laufenden Kameras die türkische Flagge in Brand setzten, weckten Erinnerungen an den 15 jährigen Krieg zwischen türkischer Armee und kurdischer PKK in den achtziger und neunziger Jahren. Die PKK ist längst verboten. Niemand weiß, wie viele Anhänger sie noch hat. Und doch genügen Bilder wie diese, um die türkische Volksseele aufzubringen, die sofort um die nationale Einheit bangt. Dabei sind es just die Kurden, die sich am meisten von einem türkischen Beitritt zur EU erhoffen können, sagt Dagi. Die Kurden wollen Mitglied in der EU sein, weil sie sich von Europa mehr Demokratie, bessere Menschenrechte und Wohlstand in der Region und für sich selbst versprechen.

    Feridun Yazar war Bürgermeister einer kurdischen Kleinstadt und lebt heute in Ankara. Er ist Mitglied der Dehap, der offiziellen Kurdenpartei in der Türkei. Der Beitritt zur Europäischen Union sei ein sehr schwieriger Prozess, sagt der ältere Herr im dunkelblauen Blazer und tiefroten Schlips: Von Europa könnten die Kurden aber nur profitieren – stärkt die EU doch die Rechte der Minderheiten

    Vom Ziel eines eigenen kurdischen Staates hat die Kurdenpartei Dehap längst Abschied genommen. Und doch wird sie von der türkischen Öffentlichkeit immer wieder in die Nähe der verbotenen PKK und ihrer Terrormethoden gerückt. Feridun Yazar setzt auf den umfassenden Imagewandel. Noch in diesem Jahr will er eine neue kurdische Partei gründen. Eine Partei, die mehr auf türkischer Ebene agieren soll als auf kurdischer. Und die sich ganz den europäischen Werten verschreiben will. Ihr Name: Demokratische Bewegung.