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Flagschiff der liberalen Publizistik

Kaum eine deutsche Zeitung steht für Liberalität wie "Die Zeit". Oftmals führten Auseinandersetzungen über einzelne Beiträge zu tiefen Zerwürfnissen in der Redaktion. Ungeachtet aller Meinungsvielfalt hat sich die Wochenzeitung in ihrer 60-jährigen Geschichte ein unverwechselbares Profil erarbeitet.

Von Claus Menzel | 21.02.2006
    Sie ist zweifellos Deutschlands umfangreichste Wochenzeitung: bald 100 Seiten stark und rund 2 Kilo schwer, immer wieder donnerstags. Was sieben Tage auf der Welt geschah, mögen andere längst gemeldet haben. Was es aber zu bedeuten hat, wie Himmelskräfte auf- und niedersteigen, erfährt der Bildungsbürger hier: Das Hamburger Wochenblatt "Die Zeit" war und ist das Zentralorgan des politischen und kulturellen deutschen Mittelstands. Und genau das hatte sie ja auch werden sollen.

    Als die "Zeit" am 21. Februar 1946 zum ersten Mal erschien, mit einer Auflage von 25.000 Exemplaren, war jedenfalls klar, wo das neue Blatt seine Leser suchte: in jenen Kreisen des Bürgertums, die es im Jahre eins nach 1945 dringend nach ethischer Orientierungs- und politischer Lebenshilfe verlangte. Kein Wunder also, dass ihre Gründer aus eben der Gesellschaftsschicht kamen, an die sich "Die Zeit" wendete. Der Rechtsanwalt Gerd Bucerius, der sein Leben lang ihr wichtigster Verleger blieb, erinnerte sich :

    "Während des Krieges trafen sich hier in Hamburg einige Freunde und debattierten, was man nach dem Krieg tun könne. Wir waren der Meinung, das letzte Mal hätten wir Politik und Presse zu sehr den anderen überlassen und uns nicht selbst genug darum gekümmert. Dies müsse anders werden. Wir müssten uns politisch und in der Presse betätigen und wollten also eine Zeitungslizenz erbitten. Das war schon vor Kriegsende."

    Wir – das waren neben Gerd Bucerius der ehemalige Baubeamte Richard Tüngel, der Journalist Lovis Lorenz und der Verlagskaufmann Ewald Schmidt di Simoni. Chefredakteur wurde der Publizist Ernst Samhaber, der gleich in der ersten Ausgabe beschrieb, was bis heute das Programm der "Zeit" geblieben ist:

    "Wie eine Mauer von Finsternis und Verzweiflung steht die Zukunft vor uns. Wir können nur helfen, ein kleines Licht anzuzünden, um die Pfade zu beleuchten, auf die wir in den nächsten Wochen und Monaten tastend unseren Fuß setzen müssen."

    Anders als das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" suchte die "Zeit" ihren Erfolg denn auch nicht im Enthüllungsjournalismus, sondern im Versuch, ihren Lesern so etwas wie politische Vernunft zu vermitteln. 1949 wurden zum ersten Mal mehr als 100.000 Exemplare verkauft. Dennoch schrieb das Blatt tiefrote Zahlen und überlebte nur, weil Gerd Bucerius bereit war, einen Teil der Gewinne, die seine Illustrierte "Stern" erzielte, in die "Zeit" zu investieren - und dies, obwohl die "Zeit" durchaus nicht nur druckte, was das CDU-Mitglied Bucerius so dachte.

    "Die Zeitung wäre nicht das geworden, was sie ist, wenn die Redakteure nicht wirklich die Freiheit gehabt hätten, ihre Meinung zu schreiben. Wir haben ja auch nie nach Meinungen ausgesucht sondern nach Leistung. Liberalität ist schwer zu handhaben, Kommandos sind einfacher."

    Für die Existenz der "Zeit" gefährlicher als der Geldmangel wurde folglich der innere Konflikt, der zu Beginn der 50er Jahre ausbrach, als Chefredakteur Tüngel einen Artikel des NS-Staatsrechtlers Carl Schmitt abdrucken ließ. Marion Gräfin Dönhoff, seit Gründung Redaktionsmitglied und später bis zu ihrem Tod Mitherausgeberin der "Zeit", war empört.

    "Da ging ich in mein Zimmer und packte meinen ganzen Krempel ein und bin weggegangen, weil das war mir nun wirklich zu dumm. Mein ganzes Studium hatte ich doch immer, hatte man doch immer dies Schreckgespenst, den Adolf Hitler und den Carl Schmitt und jetzt, nach zehn Jahren in der eigenen Zeitung, das fand ich zu schlimm."

    Nachdem Richard Tüngel dann auch noch den Chef vom Dienst Josef Müller-Marein zu feuern versuchte, weil der einen bösen Artikel über den amerikanischen Gesinnungsschnüffler McCarthy hatte erscheinen lassen, stand der Ruf der "Zeit" auf dem Spiel. Tüngel musste gehen und als neuer Chefredakteur begründete Müller-Marein jene lange Epoche, in der das Blatt zum Flagschiff der liberalen deutschen Publizistik wurde.

    Hier schrieb nun bald jeder, der Rang und Namen und obendrein etwas zu sagen hatte: der Staatsrechtler Theodor Eschenburg, der Kulturhistoriker Ludwig Marcuse, die Sozialwissenschaftler Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas. Zeitweilig erreichte die "Zeit" eine Auflage von 500.000 Exemplaren. Doch als Gerd Bucerius 1995 starb, wurde das Blatt an den Stuttgarter Holtzbrink-Konzern verkauft, der bald klar stellte, dass auch die "Zeit" sich dem Geist der neuen Zeit anzupassen habe – mit größeren Überschriften, größeren Buchstaben, größeren Freiflächen zwischen kürzeren Artikeln. Doch wie das so ist, wenn eine Matrone sich liften lässt: Die artifizielle Jugend hat so ihre Tücken, und der Charme des Alters ist dahin.

    Das mag man bedauern. Verwunderlich ist es nicht. Der Bildungsbürger, einst zuverlässiger Leser der "Zeit", stirbt aus. Heute wird die Zeit 60, im Jahr 2011 65 Jahre alt. Zeit für die Rente?