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Flair, Stimmung und Horror zugleich

Es hätte Varianten gegeben für den Titel von Ljudmila Petruschewskajas Erzählungsband "Es war einmal eine Frau, die ihren Mann nicht sonderlich liebte": "Es war einmal ein sehr dickes Mädchen, dass nicht ins Taxi passte" oder "Es war einmal ein Mädchen das starb und zurück ins Leben fand" oder "Der Sohn einer Frau hängte sich auf." Oder auch "Eine Frau hasste ihre Nachbarin, mit der sie die Wohnung teilte."

Von Uli Hufen | 27.01.2011
    Mit schaurig-schönen Sätzen wie diesen beginnen viele Erzählungen der Petruschewskaja. Die Idee, einen dieser Sätze als Titel für eine Sammlung von Erzählungen zu verwenden, hatte allerdings nicht sie selbst, sondern der in Moskau geborene, mittlerweile in den USA lebende Schriftsteller und Publizist Keith Gessen. Die von Gessen und Anna Summers zusammengestellte Sammlung "There once lived a woman who tried to kill her neighbours baby" verschaffte der Petruschewskaja im vergangenen Jahr den Durchbruch auf dem amerikanischen Buchmarkt, die Kritiker landauf landab überschlugen sich vor Begeisterung. In Deutschland ist die Petruschewskaja schon länger bekannt, ohne je besonders beachtet zu werden. Der sensationelle Erfolg der amerikanischen Ausgabe hat den Berlin Verlag nun dazu bewogen, es noch einmal mit einem Buch der Petruschewskaja zu versuchen. Zum Glück!

    Dass der clever gewählte amerikanische Titel und der Untertitel "Scary Fairy Tales" - auf Deutsch jetzt: "Schauergeschichten" - für den Erfolg in den USA entscheidend waren, zeigte sich vor ein paar Wochen, als die Ljudmila Petruschewskaja völlig überraschend mit dem World Fantasy Award 2010 ausgezeichnet wurde. Weder Ljudmila Petruschewskaja noch irgendjemand sonst in Russland wäre wohl auf die Idee gekommen, dass es sich bei ihren Werken um Fantasy-Literatur handelt. In Russland nennt man das, was die Petruschewskaja mit fantastischer Virtuosität betreibt gern "Tschernucha". Das Wort leitet sich von dem russischen Wort für schwarz ab und bezeichnet eine Literatur, die damit beschäftigt ist, von all dem zu erzählen, was im Leben schwer ist und schief läuft. Die Bühne für das Schwärzeste vom Schwarzen ist in Russland wie anderswo auch die Familie. Und so sind die Erzählungen der Petruschewskaja bevölkert von betrunkenen Ehemännern, die ihre Frauen nicht lieben, Müttern, die ihre Kinder nicht lieben, missratenen Söhnen und Töchtern, grausamen Schwiegereltern, gestorbenen oder verschollenen Verwandten und dergleichen mehr. Verschärft werden die Zustände in der Klein-, Mittel-, und Großfamilienhölle durch den russlandtypisch chronischen Mangel an Privatheit, Platz, Geld und Komfort.

    Unter den Händen von Ljudmila Petruschewskaja werden aus diesem finsteren Material nun aber keine deprimierenden sozialrealistischen Sittengemälde, sondern fantastische Miniaturen, in denen die Grenze von Realität und Fiktion, Albtraum und Wirklichkeit, Leben und Tod wie von Zauberhand verwischt ist. In einer federleichten, selbstredend nur scheinbar simplen Prosa, die darauf abzielt, den Effekt mündlich erzählter Folklore zu erzeugen, führt Petruschewskaja von einem gruseligen Schauplatz zum nächsten. Die Schauer, die sie dabei erzeugt, sind keine wohligen, auch wenn nicht alle Erzählungen so finster und aussichtslos sind wie "Hygiene".

    "Eine Tages klingelte es bei der Familie R., und das kleine Mädchen machte auf. Vor der Tür stand ein junger Mann, der im Treppenhauslicht irgendwie krank aussah, seine Gesichtshaut war dünn und glänzte rosa. Er sagte, er käme, um vor der drohenden Gefahr zu warnen. Angeblich wäre in der Stadt eine Epidemie ausgebrochen, eine Viruskrankheit, an der man innerhalb von drei Tagen sterbe. Der Körper schwelle an und so weiter. Ein Symptom sei das Auftreten einzelner Wasserbläschen oder einfach Knoten. Es gäbe Hoffnung am Leben zu bleiben, wenn man die Regeln der Körperhygiene streng einhalte, die Wohnung nicht verlasse und keine Mäuse hätte, denn Mäuse seien wie immer die Hauptansteckungsquelle."

    "Die Wohnung nicht verlassen" - das sind die zentralen Worte der Passage. Nicht die wohlmöglich imaginäre Krankheit sorgt im Fortgang der Erzählung für unaussprechlichen Terror, die Familienmitglieder selbst erledigen das.

    In Ljudmila Petruschewskajas Erzählungen herrscht wahrlich kein Mangel an kalten Wäldern, grauen Straßen, lebensgefährlichen Wohnungen, feuchten Kellern, Dreck, Elend und Grausamkeit. Doch immer dann, wenn es gerade droht zu viel zu werden, wird diese grausame, ungastliche Welt plötzlich von einem gänzlich unerwarteten Akt der Liebe und Menschlichkeit erleuchtet. Und erstaunlicherweise sind es diese Momente, die wie Offenbarungen in der Erinnerung des Lesers hängen bleiben. Nirgends geschieht das eindrucksvoller, als in der Geschichte der Mutter Nadja, deren Sohn versucht hat, sich zu erhängen. Eine mysteriöse Alte gibt Nadja den Rat, sich um Hilfe an Onkel Kornil zu wenden. Kornil wohne in der Schlosserei am Krankenhaus neben der Metro, stehe selbst am Rande des Grabes und dürfe keinen Schluck mehr saufen. Als Nadja den sterbenden Alten schließlich in einem apokalyptischen Keller voller Endzeit-Alkoholiker aufgespürt hat, kommt alles ganz anders als gedacht. Kornil kann ihr nicht mehr helfen, jedenfalls nicht so, wie erhofft. Und doch kehrt Nadja verwandelt aus der Unterwelt zurück.

    "Sie stupste sogar vorsichtig mit dem Finger gegen das Glas, es wackelte und fiel um, der Wodka lief aus, alles hüllte sich in Rauch. Nadja fand sich auf der Straße wieder, auf dem Nachhauseweg, ihr Kopf war völlig leer, sie schwankte sogar ein bisschen. Aber aus irgendeinem Grund fühlte sie sich leicht und glücklich, sie weinte nicht, dachte nicht an die Zukunft, spürte keine Sorgen. Als ob das Schrecklichste im Leben hinter ihr lag."

    Für Ljudmila Petruschewskaja selbst, geboren 1938, trifft dies auch zu: Auch sie hat, abgesehen vom Sterben, das Furchtbarste im Leben aller Wahrscheinlichkeit nach hinter sich: eine grausame Kindheit in den 40er Jahren, die Armut der Nachkriegszeit, den frühen Tod ihres ersten Mannes nach langer Krankheit, die langen Jahre, in denen sie in der Sowjetunion nicht gedruckt wurde. Seit den späten 70er Jahren ging es dann aufwärts: Die Petruschewskaja schreibt das Drehbuch für Juri Norsteins Trickfilm-Klassiker "Die Geschichte der Geschichten", der von Kritikern weltweit mehrfach als bester Trickfilm aller Länder und Völker ausgezeichnet wurde, ihre Theaterstücke werden nicht mehr sofort verboten, sondern erst nach der Aufführung durch einige der besten jungen Regisseure der Sowjetunion. Und seit Ende der 80er-Jahre wird die Petruschewskaja nicht nur gedruckt, sondern auch gelesen, in stetig steigenden Auflagen. Seither wurde sie vielfach ausgezeichnet, in Dutzende Sprachen übersetzt, hat ihr eigenes Theater gegründet, eine wunderbare Kinderbuchserie geschrieben und gleich mehrere mehrbändige Werkausgaben erlebt. Seit kurzem singt die kauzige Dame mit den großen Hüten auch noch, gerade ist in Russland eine CD mit ihren Versionen von Klassikern des französischen, russischen und amerikanischen Chansons erschienen. Ljudmila Petruschewskaja gehört, mit mittlerweile 72 Jahren, zum Umwerfendsten, was die russische Kunst und Literatur derzeit zu bieten hat. Wer nicht nach Moskau kann um sie in einem angesagten Clubs der Metropole zu sehen und singen zu hören, sollte wenigstens ihre Bücher lesen!

    Russische Schauergeschichten der Schriftstellerin und Chansonsängerin
    Ljudmila Petruschewskaja: Es war einmal eine Frau, die ihren Mann nicht sonderlich liebte, aus dem Russischen von Antje Leetz, 190 Seiten, 8.95