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"Flaschenpost in einem Meer voller Hass"

Der Nahe Osten ist fast täglich ein Thema in den Nachrichten, da verwundert es nicht, dass auch Jugendbücher die Konflikte der Region aufgreifen und das Leben der Menschen dort schildern. Drei Romane aus Palästina, Jerusalem und Marokko.

Von Simone Hamm | 11.11.2006
    Joke van Leeuwens Casablanca ist eine Stadt wie aus Tausend und einer Nacht, mit herrlichen Gerüchen: duftenden Orangen, nach Zimt riechenden Plätzchen, mit einem blauen Himmel und einer sternenklaren Nacht, mit bunten Märkten und den engen Gassen Casablancas, in denen sich die Menschen drängen. Man kann die Enge spüren, die Plätzchen riechen, so eindringlich schreibt Joke van Leeuwen. Doch in eben diesem Casablanca kämpfen Menschen einen erbitterten politischen Kampf um Freiheit und Demokratie.

    "Jahre ohne Amrar" heißt der Roman, den Joke van Leeuwen zusammen mit Malinka Blain geschrieben hat. Malinka Blain ist die jüngere Schwester zweier ehemaliger politischer Gefangener in Marokko. Joke van Leeuewen hatte über Amnesty International Kontakt zu dieser Familie geknüpft. Ihr Roman spielt Anfang der siebziger Jahre im Marokko Hassans des II., der die Opposition brutal unterdrückte, Demonstrationen blutig niederschlagen ließ.

    Der Schrank ist groß und blau und birgt ein Geheimnis. Zwischen Wäschestücke liegen verbotenen Bücher, Flugblätter, Aufrufe zu Demonstrationen, Schreie nach Freiheit. Der Schrank ist der Mittelpunkt einer kleinen, fensterlosen Hütte mitten in Casablanca. Hier lebt die Ich-Erzählerin Zima mit ihren Eltern und Geschwistern. Ihr ältester Bruder Amrar ist Mitglied einer verbotenen Schüler und Studentengruppe. Eines Tages verschwindet er spurlos. Der Vater lässt Briefe an den König schreiben, an den Premierminister, den Innenminister, den Oberstaatsanwalt. Die Mutter läuft von Gefängnis zu Gefängnis - und zu Wahrsagern. Langsam vergeht die Zeit.

    " Und dann plötzlich, zwei Jahreszeiten später, bekamen wir einen Brief von Amrar. Der Brief war rosafarben und kam aus dem Gefängnis. Wir befühlten ihn, wir rochen an ihm, wir lasen jeden einzelnen Satz und von jedem Satz jedes einzelne Wort und von den Wörtern jeden einzelnen Buchstaben und von den Buchstaben jeden einzelnen Bogen, jede Schleife, jede Lücke. "

    Amrar wird zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Er ist im feuchten Kellern eines weit abgelegenen Gefängnisses untergebracht. Seine Familie gibt nicht auf. Sie besuchen ihn, obwohl sie tagelang reisen müssen, bringen ihm Essen und Kleidung und die Mutter schmuggelt Kassiber hin und her.

    Zimas ältere Schwester bricht die Schule ab und arbeitet in einer Fabrik, um Geld zu verdienen. Damit soll zweite große Bruder, Mehdi in Frankreich studieren können. Auch Medhi schließt sich den Studenten an, die Meinungsfreiheit fordern. Sie treffen sich in der Uni.

    " Mehdi las zwei Gedichte von Amrar vor, die unter den Brüsten meiner Mutter aus dem Gefängnis gekommen waren. Sie handelten vom Korn, das in der Erde ruhte und so. Dann erzählte Mehdi von den fünf Müttern, zu denen unsere gehörte, die verhaftet und zwei Tage lang festgehalten worden waren. Der ganze Saal stand auf und klatschte. Ich saugte das Geräusch in mich auf, um es meiner Mutter weitergeben zu können, die so wenig hatte lernen dürfen und doch soviel wusste. In diesem Moment überkam mich die Art von Glück, die man nicht kennen kann, wenn man nicht weiß, was Unglück ist. "

    Und dann verschwindet auch Mehdi. "Jahre ohne Amrar" ist ein Roman von Zivilcourage, von einer Familie, die fest zusammensteht. Geschrieben aus der Perspektive einer Grundschülerin, die ihre großen Brüder schmerzlich vermisst. Aber auch ein Roman von der Hoffnung, die man nie aufgeben darf.

    Hoffnungsvoll stimmt auch der Roman von Valerie Zenatti: "Leihst Du mir Deinen Blick?" Und dass, obwohl er in einem Teil der Erde spielt, in der so mancher die letzte Hoffnung begraben sieht: im jüdischen Teil von Jerusalem und in Palästina. Die 17-jährige Tal bittet ihren Bruder, der seinen Wehrsdienst im Gazastreifen ableisten muss, eine Flaschenpost mit ihrer E-Mail-Adresse dorthin mitzunehmen. Sie hofft, dass eine gleichaltrige Palästinenserin sie finden möge und dann zurück schreibt. Es antwortet ein Gazaman.

    " Mein Fräulein "Flaschenpost in einem Meer voller Hass", ich teile dir mir, dass ich ein Kerl bin. .. Wie weit kannst du eigentlich denken? Du glaubst doch wohl nicht, dass bei uns die Sprache des Feindes als erste Fremdsprache gelehrt wird, mit Hausaufgaben, Noten und der Lektüre eurer Schriftsteller als Vorbereitung auf das Abitur? Oder dass ein Junge eine Tracht Prügel bekommt, weil er schlechte Noten in Hebräisch hat ? Dass ich deinen Brief lesen und dir antworten, ja sogar dass ich mich einen Dreck um dich kümmern kann, hat damit zu tun, dass ich gezwungen worden bin, Hebräisch zu lernen, und dass ich sogar.. Ich hab keine Lust, Dir das alles zu erklären. .. Tschüss und auf Nimmerwiedersehen ! "

    Gazaman ist betont ruppig, doch Tal gibt nicht auf. Wieder und wieder mailt sie. Sie will, dass Gazaman ihr seinen Blick leiht. Sie will verstehen, warum die Palästinenser so voller Hass auf Israel sind und erkennt, dass es die Palästinenser nicht gibt. Sie erfährt, wie es ist, ohne Arbeit zu sein, wie es ist, tage - ja wochenlang nicht aus dem Haus gehen zu dürfen, wenn die Israelis eine Ausgangssperre verhängt haben. Tal erlebt und überlebt einen furchtbaren Selbstmordanschlag. Sie fühlt sich noch mehr zu dem unbekannten Palästinenser hingezogen. Was bringt Menschen dazu, so etwas zu tun? Kann er es ihr erklären? Gazamans Antworten sind von einer ätzenden, fast beleidigenden Schärfe und doch kommen die beiden sich näher.

    Die E-Mails in "Leihst du mir deinen Blick?" entwickeln eine große Dynamik. Es ist ein spannender Roman. Wird Gazaman antworten? Werden die beiden sich kennen lernen?

    Ihrer beider Leben, ihre Welten sind grundverschieden, doch beide sind des Unfriedens, der Kämpfe ihrer Völker gegeneinander müde. Das stimmt traurig. Und doch liegt genau darin die Hoffnung: in einer jungen Generation, die sich über Grabenkämpfe hinweg E-Mails schreibt.

    Begegnen dürfen sich Gazaman, der eigentlich Naim heißt, und Tal nicht. Aber sie machen ein Treffen aus. In Zukunft. In Rom. An der Fontana die Trevi.

    Noch sehr viel härter ist der Roman von Elisabeth Laird und Sonia Nimr. Ein kleines Stück Freiheit - eine Kindheit in Ramallah. Hier wollen die Kinder Fußball spielen können wie Zinedine Zidane und große Freiheitskämpfer werden und werden erschossen, wenn sie zur falschen Stunde aus dem Haus treten. Hier herrschen Chaos und Terror und Hass. Die Menschen dürfen während der Ausgangsperre auch dann das Haus nicht verlassen, wenn sie starke Schmerzen haben oder todkrank sind. Der Vater steht kurz vor dem Ruin, weil in seinem Elektroladen nicht mehr eingekauft wird. Wer braucht in den Zeiten des Todes schon ein Bügeleisen?

    Wenn die Familie aufs Land fahren will und sie in eine Kontrolle kommt, werden sie von den israelischen Soldaten gedemütigt. Alle Männer müssen sich bis auf die Unterhosen ausziehen und stundenlang bei brütender Hitze stehen. Ihre eigenen Oliven dürfen sie nicht mehr ernten. Sie werden von bewaffneten Siedlern vertrieben.

    Elisabeth Naird schreibt umgangssprachlich, die ist ganz nah dran an den Kindern aus Ramallah. Sie konstruiert nicht mühevoll eine Geschichte, sie ist mittendrin. Hautnah. Sie erzählt von drei Freunden. Da ist Karim, der Sohn des Elektrohändlers, Joni, der Sohn eines christlichen Unternehmers, der mit seiner Familie nach Jordanien auswandern wird und Hopper, der todesmutige Hopper aus dem Flüchtlingslager, der eine ganze Panzerkolonne zum Halten zwingt. Die Jungen räumen einen Platz von Schutt und Geröll, bauen sich einen Fußballplatz, - Sinnbild eines unbeschwerten Kinderlebens, Zeichen der Hoffnung. Sie kicken und spielen - wie andere Jungen anderswo. Aber sie leben tagtäglich mit der Angst.

    Ungemein spannend ist Elisabeth Lairds Roman. Die Leser zittern mit Karim, als er sich kurz vor einer Ausgangssperre verletzt und nicht mehr rechtzeitig nach Hause kommen kann. Tagelang hält er sich versteckt. Aber Momente der Hoffnung, der Rührung gibt es auch im zerstörten Ramallah noch. Einmal beobachtet Karim, wie ein junger israelischer Soldat mit einer Katze spielt.

    " Sein Gesicht unter dem Stahlhelm strahlte vor Lachen, seine Zähne hoben sich weiß von der gebräunten Haut ab. Karim sog scharf die Luft ein. Für einen Moment, für den Bruchteil einer Sekunde, hatte der verhasste Soldat in seiner Besatzeruniform ganz genau wie (sein Bruder) Jamal ausgesehen. "

    Ein Moment der Hoffnung, der Rührung im zerstörten Ramallah.

    Bibliographie
    Elisabeth Laird Sonia Nimr : Ein kleines Stück Freiheit - eine Kindheit in Ramallah. Aus dem Englischen von Mareike Weber. Mit einem Nachwort von Dr. Behrouz Khosrozadeh. Arena. 329 Seiten. 7.90 Euro

    Joke van Leeuwen. Malika Blain: Jahre ohne Amrar. Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann. Sauerländer. 151 Seiten.
    12.90 Euro

    Valerie Zenatti Leihst Du mir deinen Blick. Aus dem Französischen von Bernadette Ott. Cecilie Dressler Verlag.190 Seiten. 12 Euro