
"Hi, ich heiße Karsten und ich spiele gleich Jesus' Stiefvater Joseph. Was hat dich zu uns gebracht? Möchtest du etwas trinken?" Mit diesen oder ähnlichen Worten empfangen die Schauspieler in "The Mysteries" das Publikum. Das sitzt um eine kreuzförmige Bühne herum, hinter ihm gibt es hinter einem Plastikvorhang Laufstege für den Engelschor. Das Publikum zwischen Himmel und Erde, zwischen Erlösung und Abgrund. Was sich in den nächsten fünfeinhalb Stunden abspielt, ist dann nicht weniger als ein Intensivkurs über die Mythen des christlichen Abendlandes: vom Fall Lucifers über die ersten Kapitel des Buches Genesis, ein kurzer Ausflug ins Buch Exodus, die Evangelien mit einigen Teilen der Apostelgeschichte und zu guter Letzt das Jüngste Gericht aus der Apokalypse.
Strammes fünfstündiges Programm
Ein strammes Programm, unterbrochen von zwei Pausen, in denen Engel, Soldaten und Jünger vegetarisches gluten-freies Essen servieren. Kurz vor der Kreuzigung ist sogar noch Zeit für süße Baklava und frische Äpfel. Im Geiste ursprünglicher Mysterienspiele, in denen jedes Kapitel von einer anderen Gilde gestaltet wurde, hat das Flea Theater 48 amerikanische Autoren beauftragt, ihre Version der biblischen Geschichten zu formulieren. Regisseur Ed Sylvanus Iskandar:
"Ich habe diese Geschichten immer in einem religiösen Kontext gehört. Ich wollte eine säkulare Form finden, die Geschichten zu erzählen, denn wenn ich sie lese ist es nicht anders, als wenn ich die Odyssee oder die Ilias lese: eine Sammlung von Parabeln und Mythen."
Jesus Christ Superstar, Monthy Python, Politsatire und modernes Drama
Herausgekommen ist ein bunter Flickenteppich verschiedener Formen und Genres, von den mehr als 50 Darstellern und Sängern in rasantem Tempo manchmal etwas laut, doch oft herrlich einfallsreich gespielt: Ein bisschen Jesus Christ Superstar, Monthy Python, Politsatire und modernes Drama. Gott ist ein kleinwüchsiger Schauspieler, dem seine eigene Schöpfung nach der Ermordung Abels zu kompliziert geworden ist. Er übergibt das Zepter an Gabriel und verabschiedet sich für die nächsten vier Stunden. Die meisten der alttestamentarischen Geschichten sind witzig und comichaft erzählt, während die Texte über das Neue Testament emotionaler, satirischer und politischer werden. Jesus Taufe am Jordan wird sogar plötzlich große Oper, wenn der Engelschor in gleißend hellem Licht atonale Kaskaden singt und die Vorfahren Jesu von Adam über Noah und Abraham bis Johannes dem Täufer einen kleinen goldenen Schlüssel, das Zeichen der Verheißung Gottes, an ihn weiter geben.
Jugendliche Leidenschaft der Protagonisten
Alles ist ganz nah und unmittelbar und lebt von der jugendlichen Leidenschaft seiner Protagonisten. Das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein macht einen Großteil des Charmes dieses Abends aus. Viele der teilweise hochrangigen Autoren stellen immer wieder das Verhältnis zwischen Mensch und göttlicher Vorsehung infrage, oderüberraschen mit interessanten Perspektivenwechseln. Zum Beispiel wenn Gabriel Maria zur Himmelfahrt aus einem Altenheim abholen will. Doch Maria zieht es vor, aus freien Willen zu sterben. Oder wenn der frisch konvertierte Paulus als aalglatter Manager den verängstigten Petrus mit seinen Kontakten einschüchtert. Und beim Jüngsten Gericht steht nicht der Mensch, sondern Gott auf der Anklagebank.
"Wie kann es da ein letztes Wort geben, wenn wir als Bewusstsein auch nachdem wir unseren Körper verlassen fortbestehen? Einen Schlusspunkt zu finden fühlte sich da wie eine mittelalterliche Idee an. Deswegen habe ich die Idee des Jüngsten Gerichts als ein Gericht über Gott sehr unterstützt, nicht nur über ihn als Person, sondern als Idee."
Theater als soziales Event
Regisseur Iskandar und seine 50 Schauspieler schaffen es Theater in ein soziales Event zu verwandeln und die christlichen Geschichten mit Ernst und Satire in einen modernen Kontext zu bringen. Und am Ende kennt man neben den biblischen Geschichten fast das gesamte Ensemble mit Namen und nicht wenige Publikumsmitglieder verabschieden sich mit einer Umarmung von den Spielern. Als wäre man sich in den letzten fünfeinhalb Stunden als Mensch irgendwie näher gekommen.