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Fleischeslust

Wer Boyle liest, muß wissen, daß der Autor vom gemeinen Menschen keine hohe Meinung hat. Ganz zu schweigen von denen, die es gut rneinen. Immer wieder sind es die edlen Seelen, die der Erzähler lustvoll in die Abgründe ihrer eigenen hochgesteckten Ideale stürzen läßt. Sind sie erstmal von der Mission erfüllt, ein wertvolles Mitglied der menschlichen Gemeinschaft zu werden und als wache Erdenbürger Verantwortung für das große Ganze zu übernehmen, kann der Leser sicher sein, daß Boyle rechtzeitig zur Stelle ist, um die hehren Ziele als selbstsüchtige Inszenierungen oder nur als naives Gutmenschentum zu entlarven. Daß die Fa1lhöhe hoch genug angesetzt wird, um den Kandidaten nach dem Schaden auch noch dem Spott anheimzustellen, gehört zur handwerklichen Grundausstattung dieser literarisch allemal produktiven Misanthropie. Wie die meisten Menschheitsverächter ist auch Boyle ein heimlicher Moralist. Hat der "Atem der Heiligkeit" die zum Guten entschlossenen Protagonisten seiner Erzählungen einmal gestreift, werden sie sich mit tödlicher Sicherheit in dem Netz der negativen Anthropologie, das der Autor zwischen den Zeilen ausgelegt hat, verfangen. Die Malaise des Scheitern ist ein zuverlässigerer Zuchtmeister des Lebens als alles Pathos des Gelingens. Um diese Perspektive für die Literatur anschlußfähig zu machen, bedarf es eines Moments, das Boyles Erzähltechnik in vielen Spiefarten bereithält: Komik. Die einstürzenden Neubauten werden eben erst dann richtig interessant, wenn gerade Richtfest gefeiert wird.

Stephan Krass |
    In der Titelerzählung "Fleischeslust" macht ein 3ojähriger Werbetexter am Ufer des Pazifik die Bekanntschaft einer "ebenmäßig gebauten" Strandläuferin. Diesen glücklichen Umstand verdankt er der lnkontinenz ihres Hundes, der den Anorak des eingenickten Beachboys mit seinen Blasensekreten verunreinigt. Diese spezifische Schwäche des Hundes - so erfährt der Geschädigte - entstamrnt einer Serie von Tierversuchen, aus der die Joggerin den geschändeten Vierbeiner befreit hat. Seither buchstabiert der Name des Hundes ALF die Initialen der "Animal Liberation Front', der die schöne Hundehalterin als aktives Mitglied angehört. Als der Anorak wenig später in der Waschmaschine der militanten Tierschützerin gleichmäßig rotiert und sein Träger sich mit der "Süße ihrer Gemüsezunge" und der "Gelenkigkeit ihrer Gliedmaßen" vertraut macht, ahnt er bereits, daß seine Biographie einen Knick bekommen hat. Nachdem die ALF-Aktivistin Ihn gänzlich zum Vegetarierdasein bekehrt hat, und der ehemalige Werbetexter als ausdauernder Demonstrant vor Pelzgeschäften seine lnitiation als Tierschützer empfangen hat, kann er sich für seinen ersten Großeinsatz gegen den "Artenfaschismus" bereitmachen. Kurz vor Thanksgiving soll er den Truthahnbestand einer Geflügelfarm freisetzen. Als der siegreiche Held schließlich wie ein "Mosaik von Schrammen- und besudelt mit "Truthahnkacke" zu seiner Angebeteten zurückkehrt, muß er erfahren: "Zwischen uns läuft nichts. Hier geht es nur um Tiere."

    In einer anderen Episode führt Boyle die Großmannssucht eines Immobilienhändiers vor, der sich mit Frau und Tochter in einem Wildtiergehege einfindet, das ein cleverer Unternehmer am Rande der kalifornischen Metropolen in die Landschaft gesetzt hat. Serengeti läßt grüßen. Hier kann der zivilisationsmüde Stadtneurotiker seine geheimen Verwilderungswünsche austoben. Hier darf er auf alles schießen, was sich in der künstlichen Naturkulisse bewegt: Löwen, Gazellen, Wasserbüffel, Elefanten. Die Frau des lmmobilienmaklers hat schon mal Pläne gemacht: Die Gazellen sind für das Büro bestimmt, die Zebras für die Skihütte, aber für die Eingangshalle ... naja, da sollte doch "etwas Größeres" her. Die Thomson-Gazellen bringt der Freizeit-Cowboy aus 2oo m Entfernung mit sauberem Schuß zur Strecke, doch der Elefant mit seinen sieben Tonnen Lebendgewicht hat das Blut in der Luft gewittert und weiß, daß der Jeep der Großwildjäger seinetwegen gekommen ist. Als der erste Schuß fällt, greift er an.

    Nicht in allen Geschichten schreibt Boyle von Tieren und Menschen, aber wenn er es tut, geht es seiten gut aus für die Menschen. Ob die Szene in greller Komik erstarrt, in den Abgrund der Absurdität stürzt oder in leiser Ironie verklingt, immer bleibt Gottes Tiergarten ein zoologisches Phänomen, das der Hominisierung noch harrt. In den gelungensten Momenten seiner Erzählkunst wird Boyle, den der Furor des Entarvens nicht immer vor durchsichtigen Pointen bewahrt, zu einem furiosen Beobachter dieses Experiments. Seinen Erzähler läßt er einmal sagen, es gehe um die "subtilen Veränderungen in der Struktur der Dinge'. in einer eher unauffälligen Geschichte mit dem Titel "Der Nebelmann" gerät ein 12jähriger Junge, der einer properen Vorstadtsiedlung des Ostens entstammt, in den Sog des Rassismus, ohne selbst noch einen Begriff dafür zu haben. In Folge einer Art Gruppen- oder Nachbarschaftsloyalität wird er plötzlich mit einem zerstörerischen Impuls in sich selbst konfrontiert, der den introvertierten Jungen zum Täter werden läßt. Obwohl sein Delikt nicht schwer ist, sind es gerade die ziellosen Aufwerfungen seines labilen Seelenhaushalts, die ihn zu dieser Tat prädestinieren. Wie Boyle diese psychische Instabilität In ihrem lautlosen Unglück erzählerisch auslotet und in scheinbarer Beiläufigkeit das familiäre und soziale Umfeld in all seiner trostlosen Aufgeräumtheit beschreibt, das gehört schon zu den geglückten Augenblicken dieser Lektüre.

    Leider schreibt der Meister nicht immer mit so schlanker Feder, sondern muß bisweilen größeres Gerät bemühen, um sein Konfliktszenario regelrecht herauszumeißeln. Dann verleitet ihn sein helles Sensorium für die Paradoxien des Alltags zu Überzeichnungen, in denen das Beoachtungsinstrumentarium für die "subtilen Veränderungen in der Struktur der Dinge" auf dem Altar seiner Pointenverliebtheit geopfert wird. Die Lust am Decouvrieren verführt ihn dazu, Alarm zu schlagen, wo ein ironisches Augenzwinkern gereicht hätte. So wird der Autor zum Resonanzkörper seiner besten Einsichten.

    Das ist freilich kein Grund, diese in den USA bereits 1994 erschienenen Erzählungen zu verschmähen. Wer Boyles obsessiven Blick für die signifikanten Widersinne des Lebens kennt und zudem weiß, weich sprachsicheren Übersetzer seine Werke in Werner Richter gefunden haben, der wird sich das Vergnügen dieser Lektüre nicht entgehen lassen. Im übrigen wissen Boyle-Leser längst: Um zum Gelben vom Ei zu kommen, muß man sich manchmal durch einen overegged pudding essen. Aber dann ist Ostern.