In einer anderen Episode führt Boyle die Großmannssucht eines Immobilienhändiers vor, der sich mit Frau und Tochter in einem Wildtiergehege einfindet, das ein cleverer Unternehmer am Rande der kalifornischen Metropolen in die Landschaft gesetzt hat. Serengeti läßt grüßen. Hier kann der zivilisationsmüde Stadtneurotiker seine geheimen Verwilderungswünsche austoben. Hier darf er auf alles schießen, was sich in der künstlichen Naturkulisse bewegt: Löwen, Gazellen, Wasserbüffel, Elefanten. Die Frau des lmmobilienmaklers hat schon mal Pläne gemacht: Die Gazellen sind für das Büro bestimmt, die Zebras für die Skihütte, aber für die Eingangshalle ... naja, da sollte doch "etwas Größeres" her. Die Thomson-Gazellen bringt der Freizeit-Cowboy aus 2oo m Entfernung mit sauberem Schuß zur Strecke, doch der Elefant mit seinen sieben Tonnen Lebendgewicht hat das Blut in der Luft gewittert und weiß, daß der Jeep der Großwildjäger seinetwegen gekommen ist. Als der erste Schuß fällt, greift er an.
Nicht in allen Geschichten schreibt Boyle von Tieren und Menschen, aber wenn er es tut, geht es seiten gut aus für die Menschen. Ob die Szene in greller Komik erstarrt, in den Abgrund der Absurdität stürzt oder in leiser Ironie verklingt, immer bleibt Gottes Tiergarten ein zoologisches Phänomen, das der Hominisierung noch harrt. In den gelungensten Momenten seiner Erzählkunst wird Boyle, den der Furor des Entarvens nicht immer vor durchsichtigen Pointen bewahrt, zu einem furiosen Beobachter dieses Experiments. Seinen Erzähler läßt er einmal sagen, es gehe um die "subtilen Veränderungen in der Struktur der Dinge'. in einer eher unauffälligen Geschichte mit dem Titel "Der Nebelmann" gerät ein 12jähriger Junge, der einer properen Vorstadtsiedlung des Ostens entstammt, in den Sog des Rassismus, ohne selbst noch einen Begriff dafür zu haben. In Folge einer Art Gruppen- oder Nachbarschaftsloyalität wird er plötzlich mit einem zerstörerischen Impuls in sich selbst konfrontiert, der den introvertierten Jungen zum Täter werden läßt. Obwohl sein Delikt nicht schwer ist, sind es gerade die ziellosen Aufwerfungen seines labilen Seelenhaushalts, die ihn zu dieser Tat prädestinieren. Wie Boyle diese psychische Instabilität In ihrem lautlosen Unglück erzählerisch auslotet und in scheinbarer Beiläufigkeit das familiäre und soziale Umfeld in all seiner trostlosen Aufgeräumtheit beschreibt, das gehört schon zu den geglückten Augenblicken dieser Lektüre.
Leider schreibt der Meister nicht immer mit so schlanker Feder, sondern muß bisweilen größeres Gerät bemühen, um sein Konfliktszenario regelrecht herauszumeißeln. Dann verleitet ihn sein helles Sensorium für die Paradoxien des Alltags zu Überzeichnungen, in denen das Beoachtungsinstrumentarium für die "subtilen Veränderungen in der Struktur der Dinge" auf dem Altar seiner Pointenverliebtheit geopfert wird. Die Lust am Decouvrieren verführt ihn dazu, Alarm zu schlagen, wo ein ironisches Augenzwinkern gereicht hätte. So wird der Autor zum Resonanzkörper seiner besten Einsichten.
Das ist freilich kein Grund, diese in den USA bereits 1994 erschienenen Erzählungen zu verschmähen. Wer Boyles obsessiven Blick für die signifikanten Widersinne des Lebens kennt und zudem weiß, weich sprachsicheren Übersetzer seine Werke in Werner Richter gefunden haben, der wird sich das Vergnügen dieser Lektüre nicht entgehen lassen. Im übrigen wissen Boyle-Leser längst: Um zum Gelben vom Ei zu kommen, muß man sich manchmal durch einen overegged pudding essen. Aber dann ist Ostern.