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Flexibel aktivierbar oder zu viel träge?

Mit ihrem neuen Energiekonzept will die Bundesregierung in den nächsten 40 Jahren die Stromversorgung schrittweise auf vorwiegend erneuerbare Energien umstellen. Mit dem Betrieb von Atomkraftwerken sei dies kaum möglich, meinen Kritiker, denn sie bezweifeln, dass diese so wie Gaskraftwerke ausreichend flexibel an- oder heruntergefahren werden, um den schwankenden Bedarf zu liefern, der bei der wetterabhängigen Erzeugung von Strom in Wind- oder Sonnenkraftwerken entsteht.

Von Henning Hübert | 03.11.2010
    Die 17 deutschen Atommeiler liefen in der Vergangenheit überwiegend im Grundlastbetrieb. Das heißt: auf Hochtouren. Biblis A beispielsweise, seit über 35 Jahren am Netz und damit dienstältester deutscher Reaktor, mit einer Generatordauerleistung von 1225 Megawatt. Doch man kann auch anders - und ist laut Betreiber RWE Power auch bereit, jederzeit auf Schwankungen im Stromnetz zu reagieren. Norman Hoffmann, im AKW Biblis Leiter der Betriebstechnik:

    "Die Konstruktion damals schon 1972, als man das Kraftwerk gebaut hat, hat man so gebaut, dass wir Gradienten fahren von 130 MW pro Minute. Das ist mehr als jeder andere Kraftwerktyp, egal ob Gas oder Kohle fahren kann. Wir haben ja eine elektrische Leistung von 1200 MW. Wenn ich sage, wir haben einen Gradienten von 120 MW pro Minute, sagt das im Prinzip: In zehn Minuten kann ich die Leistung komplett von null auf 100 fahren oder auch umgedreht."

    Damit kann allein dieses AKW innerhalb einer Viertelstunde Schwankungen der Windkraftanlagen in Deutschland abdecken. Das vermehrte Rauf- und Runterfahren der Brennelemente in den Reaktor ist auch seit Längerem gängige Praxis. Dieses Gegensteuern durch AKWs empfiehlt auch eine Studie von Erlanger Wissenschaftlern des Kernenergieunternehmens Areva NP für die Internationale Zeitschrift für Kernenergie über die Lastwechselfähigkeiten deutscher Kernkraftwerke. Darin sprechen sie zwar den Punkt Materialermüdungen an, rechnen aber mit mindestens 12.000 großen Laständerungen, für die deutsche AKWs ausgelegt seien, ohne dass deren Sicherheitsreserve erreicht würde. Damit könne man rechnerisch 35 Jahre lang täglich Schwankungen in der Windenergieerzeugung ausgleichen. Davor warnen aber Kritiker. Wolfgang Renneberg, Berater des Bonner Büros für Atomsicherheit und bis letztes Jahr Leiter der Abteilung für Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium:

    "Wenn Sie einen Draht nehmen, und Sie biegen ihn, dann wird dieser Draht nicht gleich brechen. Wenn Sie ihn aber 30 mal biegen, dann geht dieser Draht kaputt. Dann bricht er. Im Kernkraftwerk ist mit jeder Laständerung auch eine Temperaturänderung - in Rohleitungen, in Ventilen - verbunden. Das führt dann zum Beispiel an den Schweißnähten zu Spannungen. Und diese Spannungen ermüden das Material. Sie ermüden das Material genauso, wie wenn sie es biegen würden."

    Umgehend sei der aktuelle Zustand der Kernkraftwerke zu untersuchen, statt sich auf Jahrzehnte alte Modellrechnungen zu stützen:

    "Dieser aktuelle Ermüdungszustand ist offensichtlich dem Bundesumweltministerium nicht bekannt. Denn sonst wäre in seiner Nachrüstungsliste nicht als Forderung enthalten, dass solche Ermüdungsanalysen durchgeführt werden müssen. Das ist dringend. Auf der anderen Seite muss aber auch ermittelt werden, wie viele Lastwechsel auf diese Anlagen zukommen. Das ist noch gar nicht klar."

    Seine Vermutung: Künftige Lastwechsel würden bis 50 Prozent und weiter runter gehen. Der Bundesverband Windenergie hält Kernkraftwerke generell in ihrer Betriebsführung für ungeeignet, um auf Schwankungen im Netz zu reagieren. Er setzt stattdessen auf den Ausbau der Stromspeicherung durch Wasserkraft und mehr zuschaltbare Turbinen bei Biogasanlagen. Ein weiterer Vorschlag der Windkrafterzeuger: Künftig auf ein besseres Lastenmanagement durch Großverbraucher wie etwa Tiefkühlhäuser setzen, als alte AKWs bei Flaute rauf- und bei frischer Brise runterzufahren.