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Fliegendes Zwitterwesen

Luftfahrt. Ein in Italien und den USA entwickeltes Hubschrauberflugzeug soll die Vorteile beider Fluggeräte vereinen und deren Nachteile vergessen lassen. Denkbar ist unter anderem eine schneller Transport zwischen europäischen Großstädten.

Von Thomas Migge |
    So hört es sich an, wenn es sich vom Boden erhebt. Und das ist das Geräusch, wenn es fliegt. Die Rede ist von einem Modell, das bald schon in Serie gehen wird. Ein Zwitterwesen: halb Hubschrauber, halb Flugzeug. An den Flügeln dieses Hubschrauberflugzeugs befinden sich Propeller, aus denen, je nach Bedarf, die Rotorblätter eines Hubschraubers werden. Entwickelt wurde dieses Flugzeug vom italienischen Luftfahrtunternehmen Augusta Westland in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Partner Bell. Der offizielle Name lautet BA 609. Ein Wunderwesen, schwärmt der leitende Ingenieur von Augusta, Giuseppe Orsi:

    "BA 609 lässt alle Nachteile eines Hubschraubers und eines Flugzeugs vergessen. Ein Hubschrauber kann nicht besonders schnell fliegen, und ein Flugzeug benötigt eine Landebahn und kann nicht mitten in einer Stadt auf einem Platz oder auf einem Dach landen."

    Das neue Fluggefährt ist eine Mischung aus Hubschrauber und Flugzeug. Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein kleines Privatflugzeug. Mit einer Länge von 13,3 Metern kann es bis zu neun Passagiere und drei Personen Bordpersonal aufnehmen. Neben einer Spitzenfluggeschwindigkeit von 550 Kilometern pro Stunde kann BA 609 eine vertikale Geschwindigkeit von 185 Kilometern pro Stunde vorweisen. Sein Tank reicht für knapp 1300 Kilometer Flugstrecke. Es hat einem normalen Hubschraubern gegenüber den Vorteil, dass es bis zu einer Höhe von 8000 Meter aufsteigen und fliegen kann. Ein Helikopter kann in der Regel nur bis in eine maximale Höhe von 4000 Metern fliegen - es sei denn, er wird mit Atemgeräten für Passagiere und Bordpersonal ausgestattet.

    Die Motoren des italo-amerikanischen Zwitterwesens befinden sich am äußersten Ende seiner Flügel, von denen jeder eine Länge von zirka sieben Metern aufweist. Wenn das Hubschrauber-Flugzeug angeschaltet wird, befinden sich die Motoren in einer horizontalen Position.

    "Beim Starten sieht das BA 609 wie ein kleines Flugzeug aus, das sich wie ein Hubschrauber in die Luft erhebt. Befindet es sich dann in der geplanten Flughöhe, werden die Motoren in Sekundenschnelle um 90 Grad geschwenkt, bis sie sich in einer vertikalen Position befinden. Aus dem Hubschrauber ist ein Flugzeug geworden, das dann auch wie ein Flugzeug fliegt."

    Im Unterschied zu einem normalen Helikopter sind die Rotorblätter von BA 609 viel kleiner und haben eine Länge von nur jeweils drei Metern. Der Rotorantrieb erfolgt wie bei einem x-beliebigen Flugzeug und nicht wie bei einem Hubschrauber über Wellen durch Kolbenmotor oder Gasturbinen.

    Die von Augusta Westland und Bell genutzte Motorentechnologie ist die eines Flugzeugs. Neu ist lediglich der Bewegungsmechanismus der beiden Flügelmotoren, die 90-Grad-Wendungen vornehmen können. Sobald die Rotorblätter das Flugzeug in die entsprechende Flughöhe gebracht haben, drückt der Pilot in seiner Kabine auf einen Knopf. In weniger als zwei Sekunden drehen sich die Flügelmotoren und werden zu normalen Propellern. Während dieses Vorgangs, der sich aerodynamisch in keiner Weise auf die Flughöhe und die Flugstabilität auswirkt, bleiben die Motoren eingeschaltet. Ein ganz einfacher technischer Trick, meint Ingenieur Orsi:

    "Dieses Flugzeug kann zum Beispiel die Flugzeit von Rom nach Mailand auf nur eine Stunde verkürzen. Der Passagier fliegt vom Stadtzentrum in Rom aus direkt ins Zentrum von Mailand. Sollten die Wetterbedingungen eine Landung nicht erlauben, kann BA 609 in der Hovering-Position bleiben, das heißt, es kann, wie jeder normale Hubschrauber, fest in der Luft stehen bleiben."

    Die italienische Luftwaffe hat bereits einige dieser Hubschrauberflugzeuge bestellt. Sie sollen im Kampf gegen die Schleppermafia im südlichen Mittelmeer zum Einsatz kommen.