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Fließende Übergänge zwischen Tradition und Moderne

Wenn von der Donau die Rede ist, denkt wahrscheinlich niemand sofort an die Stadt Ulm. Vielleicht ist das gar keine schlechte Ausgangslage, um dort ein Internationales Donaufestival zu begründen. Es fand jetzt schon zum fünften Mal statt und soll eine temporäre Vitrine der Kulturen aller zehn Anrainerstaaten sein. .

Von Gabriele Killert |
    Wozu ist so ein Donaufestival eigentlich gut? Es ist dieselbe Frage, die sich ans Leben überhaupt stellt. Wozu ist es da? Wozu lebt man? Um etwas zu empfinden, oder um etwas zu erreichen? Kontemplation oder Aktion. Beides zusammen ist normalerweise nicht zu haben.

    Nun wird niemand eine so stolze und emsige Stadt wie Ulm der Kontemplation als Grundhaltung verdächtigen. Aber dieses Ulm nebst Neu-Ulm ist so reich. Man betrachte nur dieses Münster mit seiner fast unhöflich hohen Aspiration von 156 Metern. Nur dieses postmoderne Spitzenaufgebot an Profanbauten, die den Bau säumen wie surreale Pilze einen ehrwürdigen Baumriesen.

    Diese Stadt hat im Laufe ihrer langen Erfolgsgeschichte soviel erreicht, dass sie es sich leisten kann, beim Donaufestival ganz auf Empfindung zu setzen - auf gegenseitig ansteckende Lebendigkeit. Wenn die Donauländer sich mit all ihren Donauarmen dem neuen EU-Europa entgegenstrecken, reicht ihnen Ulm die gute alte Patrizierhand hin - zum Sprung.

    Und es kamen die Musiker mit ihren Geigen und Zimbeln, die schön betressten Tänzer und Tänzerinnen mit ihrem Brautschmuck, ihren hohen Gesängen. Es kamen die Perkussionsartisten und Maultrommler, die Rumänen in Pelzen und wollenen Strümpfen, die feurigen Zigeuner-Primas aus Budapest, und spielten unter den leuchtenden Augen von Kindern aller Altersgruppen. Solche entfesselte Anmut ist auch in Ungarn nicht mehr selbstverständlich, auch in Kecskemet, so war zu hören, gibt es nur noch Discos.

    Es kamen die Künstler und Kunsthandwerker mit ihren Erzeugnissen, die Porzellanmalerinnen und Maskenschnitzer, und die Einheimischen flanierten zwischen den Buden und Weindörfern beiderseits der Donau. Man konnte den Spitzenklöpplerinnen bei ihrem filigranen Handwerk zusehen, den Perlenauffädlerinnen, schön wie bei Vermeer, und Perle für Perle aufschließen zur eigenen Empfindsamkeit - die oft weiter entfernt ist als die Bukowina.

    Der eine oder andere konnte sich die alte Zweckfrage nicht verkneifen: Wozu soll dieser riesige Löffel aus Kirschholz gut sein? Und dann für 80 Euro? Vielleicht hängt er da als Sinnbild für die Rätselhaftigkeit aller Dinge. Wenn man lange und nah genug hinsah, war es gar kein Holzlöffel mehr, sondern eine alte Elefantenhaut, eine magische Landschaft.

    Was ging in den Gästen aus Osteuropa vor, wenn sie durch diese reizende Stadt spazierten, wo der Quadratmeter Wohnraum das Monatsbudget eines transsylvanischen Holzschnitzers verschlingt? Man konnte ihn fragen. Viele hatten ja noch einige Brocken Deutsch von ihren Vorfahren im Gepäck.

    Aber wer hatte Zeit für sowas. Es herrschte Kaiserwetter - Beckenbauerwetter. Ganz Ulm war noch im Fußballfieber. Alle liefen ja wie auf Wolken umher, wie frisch Verliebte. Ein erschütternder, reizender Anblick. Die deutsche Mannschaft war noch ungeschlagen. Matarazzi auch. Man konnte die Wortmächtigen befragen, die eingeladenen Schriftsteller. Peter Esterhazy machte den Anfang. Er erschien mit einer Corona von Brüdern zur Lesung im Donaustadion.

    Zuerst absolvierte Morton Esterhazy, der ehemalige ungarische Nationalspieler, siegreich ein Elfmeterschießen - die kabarettistische Revanche für Bern. Dann las der Autor, wobei auffiel, dass sein Schreiben immer schon unter dem Motto steht: Das Runde muss in das Eckige, sprich: zwischen zwei Buchdeckel. Aber charmant. Diesmal war er nicht bei der Sache, schlenzte ein paar Kapitelchen über seine Fußballleidenschaft lustlos in die schütter besetzten Ränge. Das war zu wenig.

    Von Esterhazy, dem Spaßmacher, war nicht zu erfahren, was in den Menschen vorgeht, die demnächst hoffen dürfen, ihre behütete Armut gegen eine ungesicherte einzutauschen. Eher schon von Oksana Sabuschko, der ukrainischen Dichterin, die aus ihrem soeben auch auf Deutsch erschienenen Bestseller "Feldstudien über ukrainischen Sex" las. Die Geschichte einer unter Liebesqualen k.o. gegangenen Dichterin und ihres mühseligen "Sichwiederaufrappelns", ausgerechnet im fremden Amerika. Titel und deutsche Darbietung verfehlten den nervösen Esprit dieses Textes. Später erst, beim Nachlesen entpuppt sich der Text als eine bis in die Eingeweide herzzerreißende hoch poetische "Suada".

    Solche Missverständnisse waren bei der Matinee mit Bruno Ganz im vollbesetzten Kulturpalast Roxy nicht möglich. Im abgedunkelten Saal las er Prager "Stetl"-Geschichten von Leo Perutz, geschrieben in der bittersten Geschichtsfinsternis einer zu Asche gewordenen Kultur. Geschichten von halluzinatorischer Kraft und schier übermenschlicher Lebensfreude. Jedes Wort war wohl abgewogen in der schüchternen Berührung des Unsagbaren. Für mich der Höhepunkt ästhetisch gesteigerter Lebendigkeit dieses schönen Donaufestivals.