Freitag, 19. April 2024

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Flucht aus Afghanistan
Jean Asselborn: Aufnahmequoten würden Glaubwürdigkeit Europas stärken

Europa rede nur von Menschenrechten, setze aber keine Zeichen, sagte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn im Dlf mit Blick auf die Lage in Afghanistan. Asselborn rät zu Aufnahmequoten, die sich an der Zahl der Einwohner in den einzelnen Mitgliedstaaten bemessen. Zudem müsse die EU humanitäre Hilfe leisten.

Jean Asselborn im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 23.08.2021
 Jean Asselborn - Außenminister Luxemburgs steht vor EU-Flaggen
"Es waren immer die Frauen in Afghanistan, die mir bei meinen Besuchen am meisten imponiert haben", sagte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn (AP Pool / Virginia Mayo)
Mehr als eine Woche nach der Machtübernahme durch die Taliban bleibt die Lage in Afghanistan weiter extrem angespannt. Zehntausende wollen das Land verlassen, aber spätestens am Kabuler Flughafen bleiben viele hängen.

Dramatische Szenen am Flughafen Kabul

Dort spielen sich dramatische Szenen ab. Es herrscht Massenpanik. In dem Gedränge sollen mehrere Menschen bereits ums Leben gekommen sein. Viele Kinder suchen ihre Eltern und umgekehrt. Nach Angaben von lokalen Journalisten hängen nun schon mehrere Fotos mit vermissten Kindern am Flughafen. US-Präsident Biden schließt eine Verlängerung des Evakuierungseinsatzes in Afghanistan nicht aus.

Europa rede nur von Menschenrechte

Kanada und Großbritannien haben angekündigt, Tausende afghanische Flüchtlinge aufzunehmen. Europa rede immer nur von Menschenrechten, handele aber nicht, sagte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn im Deutschlandfunk. Europa sollte Aufnahmequoten, die sich an der Zahl der Einwohner in den einzelnen Mitgliedstaaten bemessen, festlegen. "Das wäre ein Zeichen gewesen, das Europa sehr guttun würde, was auch die Glaubwürdigkeit Europas stärken würde. Aber Sie wissen, es ist in diesem Moment nicht möglich, in Sachen Migration eine gemeinsame Linie zu bekommen", sagte Asselborn.
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Der überraschend schnellen militärischen Erfolge der Taliban sind auch auf Fehler des Westens zurückzuführen. Wie organisieren sich die Taliban und was kommt nun auf die afghanische Bevölkerung zu?

Europa solle sich nicht an einer Politik wie der in Österreich orientieren. Dort will man Menschen aus Afghanistan kein Asyl geben. "Wenn Europa sich von dieser Art Politik inspirieren lässt und sich nicht dagegen wehrt, dann hat Europa das Bild in der Welt, was es verdient hat, und das ist kein gutes Bild in Sachen Migration", so der Außenminister.

Koalition der Willigen sei geschrumpft

Die Koalition der Willigen, um Menschen aufzunehmen, sei äußerst geschrumpft. Deutschland und Frankreich hätten viel getan. "Aber da bleibt nur Irland, Portugal und Luxemburg. Und so kann es ja nicht gehen. Wir müssen ja wenigstens die Hälfte der europäischen Länder haben, die sich da einbringen." Das sei zurzeit nicht der Fall. Seit 2015 gebe es in der Europäischen Union Länder, die keine Migranten aufnehmen wollte, die vielleicht eine andere Sprache sprechen, eine andere Religion haben und nicht in ihr Konzept passten. "Mit dem Argument, dass das Land, dass die Gesellschaft unterwandert werden würde, wo man Migration fast gleichstellt mit Terrorismus", so Asselborn.

EU müsse humanitäre Hilfe in Afghanistan leisten

Die EU müsse humanitäre Hilfe leisten. Das Land würde sonst zusammenbrechen: "Hinter den Taliban sind Millionen Menschen und wir müssen einen Unterschied zwischen humanitärer Hilfe und Entwicklungshilfe machen. Entwicklungshilfe kann man nicht machen, aber humanitäre Hilfe."

Lesen Sie hier das gesamte Interview:
Jörg Münchenberg: Herr Asselborn, die Briten sind pragmatisch und sagen, wir machen ein Neuansiedlungsprogramm und nehmen 20.000 Flüchtlinge aus Afghanistan in den nächsten Jahren auf. Wo ist das Angebot der Europäer?
Jean Asselborn: Dasselbe hat Kanada gemacht. Es ist wirklich jammerschade, dass wir in Europa nicht nur von Menschenrechten reden, sondern dass wir auch Zeichen setzen, dass wir sie umsetzen. Was wäre gewesen, wenn wir 450 Millionen Einwohner gesagt hätten, wir nehmen – ich sage eine Zahl – 40, 50.000 auf, wir machen Quoten aufgrund der Einwohnerzahl, der Stärke der Länder und sind bereit, diese Menschen aufzunehmen. Das wäre ein Zeichen gewesen, das Europa sehr gut tun würde, was auch die Glaubwürdigkeit Europas stärken würde. Aber Sie wissen, es ist in diesem Moment nicht möglich, in Sachen Migration eine gemeinsame Linie zu bekommen.

"Das ist kurzsichtige Politik und aus dem rechten Rand"

Münchenberg: Österreich, muss man sagen, geht sogar noch weiter. Dort heißt es, egal was passiert, es wird kein Asyl für Menschen aus Afghanistan geben. Das heißt unter dem Strich auch, am Ende macht jeder wieder das, was er will.
Asselborn: Ja! Das ist kurzsichtige Politik und aus dem rechten Rand. Das ist nicht europäisch, das ist nicht menschenwürdig, das ist nicht glaubwürdig. Wenn Europa sich von diesen Politiken inspiriert und sich nicht dagegen wehrt, dann hat Europa das Bild in der Welt, was es verdient hat, und das ist kein gutes Bild in Sachen Migration.
Wolffsohn: "Versager sind an der Regierung"
Die Bundesregierung sei in Afghanistan ihrer Fürsorgepflicht gegenüber den eigenen Staatsbürgern und den Ortskräften nicht nachgekommen, sagte der Historiker Michael Wolffsohn. Die Glaubwürdigkeit sei "total beschädigt".

Münchenberg: Wäre es denn nicht aktuell trotzdem an der Zeit, dass es zum Beispiel eine Koalition der Willigen in der EU gibt, dass eine bestimmte Zahl von Mitgliedsländern vorangeht und sagt, wir nehmen ein bestimmtes Kontingent X wenigstens auf?
Asselborn: Ja! – Wissen Sie, mit dem Vorangehen – Sie wissen ja, dass noch täglich, wöchentlich Schiffe ankommen in Italien, auf Malta, die Menschen im Mittelmeer gerettet haben. Die Koalition der Willigen, um da Menschen aufzunehmen, die ist äußerst, äußerst geschrumpft. Ich nenne jetzt nicht Deutschland und Frankreich, die viel gemacht haben, aber da bleibt nur Irland, Portugal und Luxemburg. Und so kann es ja nicht gehen. Wir müssen ja wenigstens die Hälfte der europäischen Länder haben, die sich da einbringen. Das ist zurzeit nicht der Fall und wenn die Innenminister, die Migrationsminister zusammenkommen, dann ist das ganz, ganz schlimm.

Interviews zur Machtübernahme der Taliban in Afghanistan


Seit 2015 wird wiederholt und wiederholt und wiederholt, immer dasselbe, dass in der Europäischen Union es Länder gibt, die keine Migranten aufnehmen, die vielleicht eine andere Sprache sprechen, eine andere Religion haben und nicht in ihr Konzept passen – mit dem Argument, dass das Land, dass die Gesellschaft unterwandert werden würde, wo man Migration fast gleichstellt mit Terrorismus. Da ist etwas eingerissen in der Europäischen Union und ich wiederhole es immer wieder: Wenn wir davon nicht weg kommen, dann wird die ganze politische Solidarität in Europa zusammenbrechen.

"Die Frauen in Afghanistan haben mir immer imponiert"

Münchenberg: Ist denn jetzt die Lösung, Herr Asselborn, dass die Nachbarstaaten in Afghanistan helfen müssen - da ist ja vor allen Dingen an Iran und Pakistan gedacht – und dass dann Europa an diese Länder auch wieder viel Geld bezahlt?
Asselborn: Das ist eine Möglichkeit, aber das kann ja nicht das ganze Ziel sein. Sie wissen vielleicht, dass viele, viele Menschen aus Afghanistan, die wir seit 2015 aufgenommen haben respektive die an unsere Tür geklopft haben, nicht aus Afghanistan direkt kamen, sehr oft aus Iran kamen. Und wenn man jetzt hört, dass zwischen dem Iran und der Türkei Mauern gebaut werden, können Sie sich vorstellen, was das wird. Ich glaube, wir müssten in Europa genau das machen, was Kanada macht, was auch die Briten sagen, dass wir über Resettlement Menschen, die durch die Prozeduren der UNHCR gehen, in Afghanistan, dass man das organisieren kann und dann den Menschen zeigt, Europa ist da, wir nehmen euch auf, ihr braucht nicht euer Leben aufs Spiel zu setzen, ihr seid nicht in den Händen von Schmugglern.
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Keine Freiheit, keine Rechte, stattdessen Gewalt - das haben afghanische Frauen unter den Taliban schon erlebt. Die Frauen glaubten den Taliban nicht, dass sie ihnen Freiheiten gewähren werden, sagte die Politologin Katja Mielke.

Münchenberg: Lassen Sie uns trotzdem mal bei dem Ansatz bleiben, der ja auch in Deutschland gerade sehr laut diskutiert wird, dass man die Nachbarländer unterstützt. Pakistan, muss man aber sagen, spielt eine höchst dubiose Rolle bei der Unterstützung der Taliban. Iran ist da ebenfalls ein schwieriger und auch sehr unkalkulierbarer Partner. Man hat schon den Eindruck, dass die EU am Ende zu äußerst fragwürdigen Bündnissen bereit ist, Hauptsache kein Flüchtling schafft es nach Europa.
Asselborn: Ich würde nicht sagen, die EU. Es sind verschiedene in der Europäischen Union, die diesen Weg beschreiten wollen. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass man versucht, mit Pakistan oder mit Iran oder mit anderen Ländern in der Umgebung Hilfe zu leisten. Das stimmt alles. Aber das genügt ja nicht. Das Zeichen müsste gesetzt werden, dass wir als Europäische Union das machen mit zum Beispiel Frauen, Kindern vor allem, was wir tun mit den afghanischen Menschen, die für uns gearbeitet haben in den letzten 20 Jahren – sei es für die Europäische Union, sei es für die NATO. Hier scheint mir jedenfalls, dass jedes Land einsieht, dass wir diese Menschen nicht allein lassen können. Das ist auch gut so. Die ersten sind ja schon in Madrid angekommen oder in anderen europäischen Städten.
Aber das andere sind die Menschen selbst, die sehr viel leiden, die nicht direkt uns geholfen haben, aber die fürchten um ihr Leben, vor allem Frauen, Mädchen, die sich nicht von bärtigen Männern sagen lassen wollen, wie sie zu leben haben, die ihr Leben freimachen wollen. Wissen Sie, ich war fünfmal als Minister in Afghanistan. Die, die mir immer am meisten imponiert haben, das waren die Frauen bei jedem Besuch. Die Frauen sagten mir und sagten uns als Europäer, wir wollen unsere Tradition, natürlich unsere Religion und so weiter leben, wollen wir auch respektieren, aber wir wollen auch von den Menschen im Westen, Europas als Frau, als Mädchen nicht als Menschen zweiter Klasse benutzt werden, und das war auch eine der Ursachen, warum wir in Afghanistan so viel investiert haben. Die andere Ursache – Sie kennen das -, das war, dass vor 2001 Afghanistan ein Übungsplatz für Terroristen war.

"Entwicklungshilfe kann man nicht machen, aber humanitäre Hilfe"

Münchenberg: Herr Asselborn, lassen Sie uns konkret auf Europa schauen. Wo bleibt eigentlich die Stimme der EU-Kommission? Die Präsidentin, Ursula von der Leyen, hat den Anspruch einer geopolitischen Kommission. Man muss aber sagen, von dieser Institution war in den letzten Tagen doch sehr wenig zu hören.
Asselborn: Es bringt jetzt nichts, dass hier einer auf den anderen haut. Ich glaube, wir haben einen sehr hervorragenden Hebel als Europäische Union, um einzugreifen. Das ist die humanitäre Hilfe. Afghanistan ist ein Land, wo zurzeit mehr als die Hälfte der Menschen – das sind Millionen und Millionen; ich glaube, es sind 80 Millionen Menschen – nicht leben können ohne humanitäre Hilfe. Wer gibt diese humanitäre Hilfe? Das ist an erster Stelle die Europäische Union und ich glaube, dass das Land zusammenbricht, auch mit den Taliban total zusammenbricht, wenn diese humanitäre Hilfe ausbleibt. Erstens ist es das Geld, es sind Millionen und Millionen. Aber zweitens: Die humanitäre Hilfe wird nicht mehr garantiert sein, wenn die Frauen in Afghanistan nicht mehr das Recht haben zu arbeiten. Es sind die Frauen laut den NGOs, die das tun.
Münchenberg: Darf ich Sie da kurz unterbrechen? Konkret sagen Sie, keine Hilfe für Afghanistan mehr, wenn die Taliban nicht Zugeständnisse machen?
Asselborn: Nein, das habe ich nicht gesagt. Hinter den Taliban sind Millionen Menschen und wir müssen einen Unterschied zwischen humanitärer Hilfe und Entwicklungshilfe machen. Entwicklungshilfe kann man nicht machen, aber humanitäre Hilfe. Die Menschen verhungern oder ertrinken, weil sie nichts zu essen und zu trinken haben. Das können wir auch nicht tun. Das geht nicht! Darum muss man sehr aufpassen mit Schwarz-Weiß-Antworten auf diese komplexen Fragen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.