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Flucht in den Westen

Am 23. Oktober jährt sich zum 50. mal der Beginn des Ungarn-Aufstandes. 1956 entwickelte sich binnen weniger Tage aus einer Studentendemonstration ein landesweiter Aufstand gegen das stalinistische Regime. Anlass für den Deutschlandfunk, sich den Ereignissen damals und deren Folgen zu widmen in zahlreichen Sendungen bis in den November hinein. Den Auftakt macht Kultur heute mit einem Bericht über eine Ausstellung im Wien-Museum mit dem Titel "Flucht nach Wien - Ungarn 1956".

Von Beatrix Novy | 16.10.2006
    Es waren 200.000 Leute, wirklich keine Kleinigkeit, und die Österreicher haben sie vorbildhaft aufgenommen, sagt die Psychologin und Zeitzeugin Vera Ligeti, eine der Stimmen, die in der Ausstellung "Flucht nach Wien" vom Band zu hören sind. Damals hätten die Österreicher gezeigt, wozu sie fähig sind - im Gegensatz zu heute.

    Vera Ligeti kam wie die fast 200.000 anderen 1956, nach dem Ungarn-Aufstand nach Wien. Wie alle anderen betont sie das Gefühl großer Dankbarkeit, das sie, längst selbst österreichische Staatsbürgerin, den Österreichern gegenüber bewahrt - auch wenn sich Kritik an der heutigen Flüchtlingspolitik da hineinmischt. Oder andere, negative Erinnerungen. Aber von denen wollte man lange nichts wissen - der Umgang mit den ungarischen Flüchtlingen ist, sagt Ausstellungsmacher Michael Schwarz, ein nationaler Mythos, eine frühe Erfolgsgeschichte der zweiten österreichischen Republik, die ein Jahr zuvor mit dem Staatsvertrag unabhängig und neutral geworden war.

    Der Ungarn-Aufstand war auch ein dramatisches Medienereignis: Die enorme Hilfsbereitschaft im Ausland wurde mit Bildern unterstützt, die in der fest gefügten Tradition solcher Menschheitserzählungen stehen: Da beugen sich Vater und Mutter im Auffanglager über ihr Baby; verzagte Kindergesichter schauen ins Leere, Kolonnen von Flüchtenden stolpern über Land. Die Solidarität war konkret und direkt, die Leute gaben, was sie hatten.

    Ein Brief der Schauspielerin Paula Wessely, die zwei ungarische Schauspieler in ihre Wohnung aufgenommen hatte, steht für viele solcher Privataktionen. Eine Legion von Hilfsorganisationen drängte schon damals auf den Schauplatz; selbst eine muslimische Vereinigung erkundigte sich nach etwaigen Glaubensbrüdern unter den Flüchtlingen.

    So liest man sich hinein in die Geschichten, studiert Flugblätter, Tagebücher, Dokumente, Briefe von und an Behörden; entdeckt eine Faksimile-Seite aus Györgi Ligetis Streichquartett Nr. 1 - das war mit über die Grenze gekommen. Und nach und nach kommen die anderen Seiten dieser Geschichte zur Sprache.

    Der spontanen Hilfsbegeisterung folgte naturgemäß ein paar Ernüchterungen, Klagen über Bevorzugungen wurden laut, Politiker warnten davor, Flüchtlingswohnungen zu wohnlich einzurichten, sonst hätte man sie ganz am Hals. Die Sorge war unbegründet, denn die meisten Ungarn strebten nach aktuelleren Traumzielen, vor allem Amerika; das Foto von der schon angelangten Verwandten vorm weißen Cadillac spornte zusätzlich an.

    Nur ein Zehntel aller Flüchtlinge blieb - und fiel schon nach zwei Jahrzehnten kaum mehr auf. Bekannte Schriftsteller wie zum Beispiel Paul Lendvai oder György Sebestien zum Beispiel nahm man als Ungarn doch allenfalls in einem altmodischen k.u.k.-Verständnis wahr. Tatsächlich war ihre große Anpassungsleistung durch das quasi verwandtschaftliche historische Verhältnis doch erleichtert worden. K.u.k. stand dann in den 70er Jahren auch für die immer besser werdenden Beziehungen zwischen Kreisky und Kadar. Ähnlich milde wurde die Wien-Invasion geschäftsfreudiger Ungarn wahrgenommen, die die neue Reisefreiheit kurz vor der Wende von 1989 nutzten.

    Das sieht man schon daran, dass es kein Schimpfwort für die Ungarn gibt ...

    Die Ausstellung verweist so dezent wie unverhohlen auf die heutige Asyl- und Ausländerpolitik Österreichs. Was war, fragt sie, damals so anders? Die Antworten findet man in ihren Bildern. Eine lautet: Damals ging es den Österreichern zwar besser als den Ungarn, aber ein Gefälle zwischen Wirtschaftswunderkindern und Habenichtsen gab es noch nicht. Arm waren die Leute alle noch.