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Flucht in Richtung Europa

Die wenigen Aufnahmelager, die es in Italien für die Flüchtlinge aus Tunesien und Libyen gibt, bestehen meistens nur aus ein paar Zelten. Die meisten Flüchtlinge machen sich von dort aus direkt weiter auf den Weg in die europäischen Nachbarländer. Auf den Spuren eines Flüchtlings.

Von Karl Hoffmann | 31.03.2011
    Waled war vor drei Wochen nach Lampedusa gekommen. Fünf Tage lang kampierte er mit tausend anderen unter freiem Himmel auf den Felsen von Lampedusa. Dann wurde er mit einem Sonderflug nach Bari gebracht. Er stellte einen Asylantrag und wurde prompt eingesperrt. Heimlich telefonierte er von seinem Handy:

    "Ich glaube, ich werde abhauen von hier. Warum sind wir geschlossen? Was habe ich getan? Überhaupt irgendwie passt da nicht. Ich bin hier eingeschlossen. Ich kann nicht dahin gehen. Ich komm mit dem nicht klar."

    Waled hatte jahrelang mehr oder weniger in Deutschland gelebt. Im vergangenen Dezember wurde er ohne Verfahren nach Tunis abgeschoben. Sechs Wochen später fand er einen Platz auf einem der Flüchtlingsboote und kam zurück nach Europa. Doch die Reise wurde zum Albtraum. Im geschlossenen Lager von Bari gab es einen Aufstand, erzählte Waled aufgeregt an seinem Handy.

    "Irgendjemand hatte gebrannt. Vier Zimmer. Also die ganze Raum, ein komplett Raum ist gebrannt."

    Waled wurde grundlos von der Essensliste gestrichen, schließlich floh er aus dem Heim und versteckte sich in einem Supermarkt im Zentrum von Bari, von dort meldete er sich wieder.

    "Warum sie wollen alle sperren. Weiß ich auch nicht - ich bin kein Krimineller. Sie wollen alle sperren von Bari weg in ein geschlossenes Zentrum, am meisten nach Catania. Also ich habe Probleme hier, dass ich nicht auf die Straße laufen kann. Ich schaff das nicht zuviel, bei jeder Ecke Polizei."

    Nach Catania kam er am Ende nicht, denn dort wehrten sich die Nachbarn des geplanten Aufnahmelagers.

    "Es geht nicht an, dass die Last der Immigration immer nur von den Bürgern Süditaliens getragen werden soll."

    Gestern erklärte Ministerpräsident Silvio Berlusconi, wie er mit den neu angekommenen 6.000 Immigranten in Lampedusa verfahren will:

    "Sie werden in verschiedene Orte gebracht, die wir auf dem italienischen Festland vorbereitet haben. Wir gehen davon aus, dass der Abtransport in zwei bis drei Tagen abgeschlossen sein wird."

    Bisher ist nicht genau bekannt, wo diese Lager sein sollen. In den letzten Tagen hatte es heftigen Streit unter den italienischen Regionalpolitikern gegeben, denn niemand will die ungebetenen Tunesier bei sich aufnehmen. Und sie selbst wollen auch gar nicht in Italien bleiben. Auch Waled war schließlich mit einem Zug Richtung Norditalien gefahren. An der Grenze zu Frankreich meldete er sich noch einmal.

    "Die Lage ist total schlecht. Ich muss hier raus, ich muss schwarz weg. Ich muss raus aus Italien."

    Das gelang ihm erst nach dem zweiten Anlauf. Beim ersten hatten ihn französische Grenzschützer erwischt und nach Italien zurückverfrachtet, wo sie einen Ausweisungsbescheid erhalten haben und förmlich dazu gedrängt werden, das Land zu verlassen, erklärt der Polizeivertreter Luigi Lombardo:

    "Das ist eine Art Überdruckventil für die Aufnahmezentren, die völlig überfüllt sind. Und die freiwerdenden Plätze übernehmen die Nachkommenden aus Lampedusa."

    De facto sind mit der Ankunft von inzwischen 20.000 illegalen Einwanderern aus Tunesien und neuerdings auch aus Libyen die europäischen Vereinbarungen über die Immigration außer Kraft gesetzt worden. Die Behörden verzichten auf die sonst üblichen Formalitäten. Italien und damit Europa sind nicht mehr in der Lage, den Flüchtlingsstrom im südlichen Mittelmeer in geordnete Bahnen zu lenken. Die bisher letzte SMS von dem Tunesier Waled kam gestern Abend:

    "Ich bin in Belgien gut angekommen, mein Bruder. Gruss Waled"