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Flucht nach vorn

Das "Center for American Progress", eine der vielen Ideenschmieden in Washington, D.C. Einmal mehr diskutieren Experten aus Politik und Militär über die Strategie der USA im Irak und die Chancen, das militärische Engagement in dem Land an Euphrat und Tigris zu einem ehrenvollen Ende zu bringen. Auf dem Podium: der ehemalige Kongressabgeordnete Lee Hamilton, einer der Leiter der Iraq Study Group, der überparteilichen Kommission, die im Auftrag von Präsident George Bush im Dezember eine vorläufige Bilanz vorgelegt hat. Mit deutlichen Worten geißelt Hamilton die - Zitat - "erstaunliche Inkompetenz" der bisherigen Irakpolitik - und findet damit weite Zustimmung über die Parteigrenzen hinweg. Jüngsten Umfragen zufolge halten mittlerweile zwei Drittel der Amerikaner den Irakkrieg für einen Irrweg.

Von Heiko Wimmen | 11.05.2007
    Vor nur vier Jahren, nach den scheinbar leichten militärischen Siegen in Afghanistan und dem Irak, kannte der Optimismus keine Grenzen: schnell werde das Land ein demokratisches Musterbeispiel abgeben und einen Dominoeffekt einleiten, der wie einst in Osteuropa bald den ganzen Nahen Osten erfassen sollte. Warnungen und Bedenken, vor allem von europäischer Seite, wurden als Kleinmut und Miesmacherei des "alten Europa" abgekanzelt: an amerikanischen Werten sollte eine der konfliktreichsten Regionen der Welt genesen, Prosperiät und Demokratie den Sumpf des Terrorismus trockenlegen.

    " Ich glaube nicht, dass sich die ideologische Ausrichtung im Weißen Haus geändert hat. Aber ihnen ist die Realität in die Quere gekommen - in Form des totalen Scheiterns der Besatzung im Irak."

    Chris Toensing ist der Herausgeber des Middle East Report - und einer der hartnäckigsten Kritiker amerikanischer Nahostpolitik, egal ob Demokraten oder Republikaner die Regierung stellen. Nach dem elften September fanden solche Stimmen in der amerikanischen Öffentlichkeit noch weniger Gehör als zuvor. Doch längst hat sich diese Stimmung gedreht. Die drastischen Verluste der Republikaner bei den Kongresswahlen im November waren allen Umfragen zufolge vor allem auf die wachsende Ablehnung der Irakpolitik zurückzuführen. Trotzdem hat der nun demokratisch kontrollierte Kongress zunächst weitere Mittel und Soldaten für den Krieg bewilligt. Einen Rückzug der US-Truppen peilen die Demokraten erst für das Frühjahr 2008 an - rechtzeitig zum Auftakt des nächsten Präsidentschaftswahlkampfes.

    " Beide Parteien wollen der jeweils anderen Seite die Schuld am unvermeidbaren Desaster im Irak zuschieben. Die Demokraten wollen sichergehen, dass die Nachwelt Irak als den Krieg von George Bush ansieht, einen Krieg der Republikaner, den sie vergeblich versucht haben zu stoppen. Das republikanische Kalkül ist ganz ähnlich: Sie wollen die Demokraten mit in den Krieg verwickeln. Sie wollen den Krieg in die Länge ziehen bis 2009 der nächste Präsident sein Amt antritt. Und sie nehmen an, vermutlich zu Recht, dass das ein Demokrat sein wird. Auf diese Weise würde die Schuld an dem von allen erwarteten katastrophalen Ende des amerikanischen Projekts im Irak an den Demokraten hängen bleiben."

    Das Irak-Dilemma hat Bewegung in die amerikanische Außenpolitik gebracht. Verteidigungsminister Rumsfeld musste seinen Hut nehmen, das Gewicht der Falken um Vizepräsident Dick Cheney scheint reduziert. Außenministerin Condoleezza Rice hat seit den verlorenen Kongresswahlen im November bereits ein gutes Dutzend Reisen in den Nahen Osten unternommen - auf der Suche nach neuen Allianzen mit alten Verbündeten wie Ägypten und Saudi-Arabien. Schon sprechen einflussreiche amerikanische Blätter wie etwa die Washington Post von einem "strategischen Umdenken" im Nahen Osten.

    " Vor ein paar Jahren noch waren die USA in einer so starken Position, dass wir die Richtung vorgeben konnten und alle Staaten in der Region sich darauf einstellen mussten. Heute ist die Situation so, dass die Entwicklung von den Ereignissen vor Ort angetrieben wird - und die amerikanische Politik ist gezwungen, darauf zu reagieren. Das ist ein fundamentaler Unterschied. "

    Tamara Cofmann-Wittes forscht am Haim Saban-Center, der Nahostabteilung der Brookings-Institution, einem der ältesten und einflussreichsten think tanks in Washington. Direktor des Saban-Centers ist Martin Indyk - er war zweimal US-Botschafter in Israel, Sonderberater von Präsident Clinton und einer der einflussreichsten Nahostexperten in Washington. Gemeinsam mit Tamara Wittes hat Indyk erst kürzlich ein umfassendes Konzept für eine neue amerikanische Strategie im Nahen Osten verfasst - und sich damit zukünftigen US-Regierungen für hohe Ämter empfohlen.

    " Eine Folge des Sturzes von Saddam Hussein ist eine relative Stärkung der iranischen Rolle in der Region. Die US-Politik muss sich nicht nur mit dem Atomprogramm auseinandersetzen, sondern auch mit iranischen Initiativen zum Beispiel im Irak, mit der iranischen Rolle im Libanon, durch die Hisbollah, und der zunehmend aggressiven iranischen Einflussnahme in Palästina. Die USA werden so genötigt, eine Koalition aus regionalen Akteuren zusammenzustricken, um diesem expansiven iranischen Einfluss zu begegnen. Sie versuchen, eine Allianz aufzubauen, der Israel ebenso angehören soll wie unsere "moderaten Allierten", wie es die Bush-Regierung nennt, also Jordanien, Ägypten und Saudi-Arabien. "

    Nach sechs Jahren Stillstand steht Palästina nun mit einem Male wieder ganz oben auf der Prioritätenliste der Vereinigten Staaten. Dennis Ross war in den neunziger Jahren einer der Architekten des Friedensprozesses zwischen Palästinensern und Israelis und mehr als zehn Jahre Sonderbotschafter verschiedener US-Präsidenten im Nahen Osten. Heute arbeitet Ross am konservativen "Washington Institute for Near East Policy" und ist noch immer ein viel gefragter Experte in Sachen Palästina.

    " Mein Eindruck ist, dass die Außenministerin eine neue Dynamik im Nahen Osten sieht. Sie glaubt, so sagt sie es jedenfalls, dass schon jetzt eine strategische Umorientierung stattgefunden hat. Saudi-Arabien ist extrem besorgt über die Ambitionen des Iran und will verhindern, dass die Iraner die Situation in Palästina für ihre Zwecke ausnutzen. Israel hat soviel Angst vor dem iranischen Atomprogramm, dass sie vielleicht bereit sind, mit den arabischen Staaten an einem Strang zu ziehen - und wenn wir dafür die Palästinafrage aus dem Weg schaffen müssen, warum nicht?"

    Bereits auf dem Beiruter Gipfel im März 2002 hat Saudi-Arabiens König Abdallah im Namen der arabischen Staaten einen umfassenden Frieden im Tausch gegen die im Jahre 1967 besetzten Gebiete angeboten. Doch die Eskalation der zweiten Intifada und die Wiederbesetzung der Autonomiegebiete ließen die Initiative ebenso im Sande verlaufen wie die "Roadmap", der von Europäern und Amerikanern aufgestellte "Friedensfahrplan". Nun wollen die USA beide Seiten zur Annahme eines strickten Zeitplans bewegen: die palästinensische Autonomiebehörde soll Raketenangriffe aus dem Gazastreifen unterbinden, Israel im Gegenzug den Palästinensern mehr Bewegungsfreiheit einräumen. Die besonders im Gazastreifen starken radikalen Palästinensergruppen Hamas und Islamischer Dschihad haben den amerikanischen "Sicherheitsplan" bereits abgelehnt. Auch in Israel gibt es Vorbehalte. Konkrete und schnelle Resultate bleiben damit weiter unwahrscheinlich - und ohne die wird es kaum gelingen, dem Friedensprozess neues Leben einzuhauchen. Dennis Ross:

    " Man verspricht den Palästinensern einen Berg aus Gold am Ende des Regenbogens, aber ihre alltägliche Lebenssituation ist so furchtbar, dass sie sich fragen: Warum soll ich das glauben? Das gleiche gilt für Israel: Die Arabische Liga und die Saudische Initiative versprechen Israel auch einen Berg aus Gold. In der Zwischenzeit sollen die Israelis erstmal alle ihre Zugeständnisse machen und DANN kommt das konkrete Angebot. - Wir müssen beiden Seiten etwas anbieten, damit der Berg aus Gold zu einer realen Möglichkeit wird. Ich glaube, der richtige Anfang wäre ein umfassender Waffenstillstand. Das verschafft den Palästinensern Luft. Wenn sie alle Angriffe und den Waffenschmuggel einstellen und die Israelis mit den Verhaftungen und den gezielten Tötungen aufhören, dann kann man weitere Schritten einleiten, mit denen zum Beispiel die Checkpoints aufgehoben werden, und dann kann man mit richtigen Verhandlungen anfangen. "

    Demokratie und Reform - die beiden großen Themen der Nahostpolitik der letzten Jahre, sind hingegen nahezu vollständig aus der Debatte verschwunden.

    "Sechzig Jahre lang haben wir Stabilität auf Kosten der Demokratie gefördert - und weder das eine noch das andere bekommen", befand Condoleezza Rice noch im Juni 2005 in der Amerikanischen Universität in Kairo und versprach: "Das wird sich ändern - wir unterstützen nun die demokratischen Hoffnungen aller Völker." Ermutigt von soviel Rückendeckung vom wichtigsten Geldgeber der eigenen Regierung gingen ägyptische Demokratieaktivisten auf die Straße - Protest gegen die geplante Nachfolge von Vater zu Sohn Mubarak, Polizeiwillkür, Korruption und Wahlfälschung. Doch seit den Wahlerfolgen der Muslimbrüder im letzten Herbst schlägt das Regime mit zunehmender Härte zurück - und aus Washington ist nicht mehr als milder Tadel zu hören.

    " Wenn man versucht, eine solche Koalition in der Region zusammenzuzimmern und ein Gegengewicht gegen einzelne regionale Mächte zu schaffen, dann kann Demokratieförderung schnell wie ein Luxus aussehen, den man sich nicht leisten kann. Meiner Ansicht nach ist es aber trotzdem sehr wichtig, dass die USA weiterhin politischen und wirtschaftlichen Wandel in der Region fördern. Der wachsende Radikalismus, den wir zur Zeit erleben, kommt meiner Ansicht nach nicht nur aus dem Iran, er wurzelt auch in der Unzufriedenheit in den arabischen Gesellschaften, in Problemen, die zu lange ignoriert wurden. Wir brauchen ein Konzept für positiven Wandel, für Pluralismus, etwas, das den Leuten eine Alternative bietet zu dieser radikalen Ideologie, wie sie von Hassan Nasrallah und anderen Kräften in der Region verbreitet wird."

    Radikale Ideologien sieht die amerikanische Außenpolitik heute vor allem in Teheran am Werk - und mehr und mehr wird das iranische Atomprogramm zum alles beherrschenden Thema.

    " Ich denke, eine der wichtigsten Prioritäten der USA ist nun auch ein möglicher Angriff auf den Iran. Ich würde keine militärische Gewalt einsetzen wollen, aber die Option muss auf dem Tisch bleiben. Wenn die Iraner sehen, dass sie völlig isoliert sind und einen hohen ökonomischen Preis zahlen, dann wird sich vielleicht ein erheblicher Teil der iranischen Elite überlegen, dass sie zwar gerne Atombomben hätten, aber nicht um jeden Preis. Wenn der Druck nur genug erhöht wird, dann, glaube ich, werden wir keine Gewalt anwenden müssen. Wenn es darum geht zu verhindern, dass die Iraner Atomwaffen entwickeln, dann ist es der beste Weg, den Preis dafür in die Höhe zu treiben - und zugleich deutlich zu machen, was sie stattdessen bekommen könnten."

    Die Drohung mit einem Angriff soll den Angriff selbst überflüssig machen - ein riskantes Pokerspiel. Denn wenn der Iran den Bluff ernst nehmen soll, muss die Drohgebärde täuschend echt erscheinen - so echt, dass sie von tatsächlichen Kriegsvorbereitungen nicht zu unterscheiden ist und schnell zu gefährlichen Spannungen führen dürfte. Da die Bush-Regierung zunehmend die Hand Teherans hinter allen Problemen in der Region sieht - ob in Irak, Palästina oder Libanon - dürfte auch die Versuchung zunehmen, sich die Ursache allen Ungemachs mit einem Befreiungsschlag vom Halse zu schaffen - und so vielleicht eine schon fast gescheiterte Strategie doch noch in eine Erfolgsgeschichte zu wenden.

    " Ich glaube, dass die Versuchung da ist, ganz bestimmt für Vizepräsident Cheney, aber auch für Bush, den Iran anzugreifen, vermutlich aus der Luft, als eine Art großes Finale ihrer Amtszeit. Sie würden das meines Erachtens aus der ehrlichen Überzeugung tun, dass die USA das iranische Atomprogramm unbedingt stoppen müssen, dass sie keine Wahl haben. Und dass sie die einzigen amerikanischen Politiker sind, die den Mut haben, so etwas zu tun. Anders gesagt, sie fürchten, dass ihre Nachfolger nicht genug Mumm haben werden, zu tun, was getan werden muss."

    Wie verhängnisvoll ein atomar bewaffneter Iran wirklich für den Weltfrieden und die Stabilität in der Region wäre, dazu gibt es unterschiedliche Meinungen. Der scheidende französische Staatspräsident Jacques Chirac etwa sah in Interviews im Februar darin keinen Grund zur Beunruhigung - wie schon in anderen Weltgegenden werde die atomare Abschreckung funktionieren, werde die Drohung mit totaler gegenseitiger Vernichtung den Iran davon abhalten, etwa Israel anzugreifen. Empörte Proteste zwangen Chirac rasch zu einem öffentlichen Rückzieher, ein atomarer Iran ist nun auch nach offizieller französischer Ansicht wieder absolut unakzeptabel. Auch im Denken amerikanischer Politstrategen ist ein neues Gleichgewicht der Kräfte im Nahen Osten oder gar eine Anerkennung Irans als gleichwertiger Partner in der Region vorerst nicht vorgesehen. Mit weniger wird Teheran sich aber kaum zufrieden geben - auf dem mit Spannung erwarteten Irak-Gipfel im ägyptischen Sharm El-Sheik zeigte vergangene Woche der iranische Außenminister Mottaki Condoleeza Rice trotz ausdrücklicher Gesprächsangebote die kalte Schulter.

    " Rein historisch gesehen, sind Systeme die nur von einer Macht bestimmt werden, nicht sehr stabil. Wenn ich also nur als Politologe denke, dann könnte es vorteilhaft scheinen, mehrere Kräfte zu haben, die sich gegenseitig in Schach halten. Aber ich glaube nicht, dass das für die Region gut wäre, dass wir in dieser Region auf Gleichgewicht durch Abschreckung oder gar nukleare Abschreckung hinarbeiten sollten. Viele Akteure in der Region, und zwar nicht nur Israel, glauben einfach nicht, dass Iran sich damit zufriedengeben wird, als regionale Macht anerkannt zu werden. Ein Iran, der Hisbollah zu Grenzverletzungen anstachelt, die zu einem Krieg mit Israel führen; ein Iran der seine Agenten mit ihrem Training und ihrer Taktik in die Westbank und nach Gaza einschleust - da hat man wohl Grund, sich Sorgen über die iranischen Absichten zu machen. Bis zu einem stabilen Gleichgewicht der Kräfte ist es noch ein weiter Weg. "

    Vier Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins ist die amerikanische Politik im Nahen Osten auf dem harten Boden der Tatsachen angekommen. Statt Neuordnung der Region steht nun Schadensbegrenzung auf der Tagungsordnung. Hehre Ziele wie Demokratie und Reform müssen erneut hinter dem Machterhalt fragwürdiger, aber unentbehrlicher Alliierter zurückstehen. Noch ist unklar, ob diese Wende zu mehr "Realismus" zu einem Dialog mit den Gegnern der USA in der Region führen wird - oder nur den Boden bereitet für eine neue Konfrontation. Doch anders als im Frühjahr 2003 ist die Regierung von George Bush heute innen- und außenpolitisch in der Defensive, wächst die Zahl der Stimmen, die auf Kooperation und politische Lösungen setzen. Für Amerikas Partner und insbesondere die Europäer bietet sich so die Gelegenheit, auch in Washington Verbündete für eigene diplomatische Initiativen zu finden, die eine neuerliche Eskalation im Nahen Osten vermeiden könnten.

    " Für uns alle im progressiven Lager in den USA ist es wirklich ein Rätsel, warum die EU so kleinmütig gegenüber den USA auftritt - besonders, weil es doch im Interesse der EU sein müsste, wenn sie wirklich ein eigenständiger Akteur auf der Weltbühne werden will, sich von den USA zu distanzieren. Und wo, wenn nicht im Nahen Osten, wo die ganz große Mehrheit der Welt sehr viel mehr der europäischen als der amerikanischen Wahrnehmung der Lage zuneigt. Mit einem entschlosseneren Auftreten könnte die EU hervorragend punkten, besonders in der islamischen Welt."