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Flucht und Migration
Seit Jahrhunderten die gleichen Gründe

Beim Symposium "Alte Irrtümer – neue Wahrheiten. Zur Geschichte von Flucht, Vertreibung und Migration" an der Akademie für politische Bildung in Tutzing wurden die Migrationsbewegungen der vergangenen 200 Jahre in den Fokus genommen: Die Gründe, warum Menschen ihre Heimat verlassen, sind seit vielen Jahrhunderten die gleichen.

Von Julian Ignatowitsch | 06.08.2016
    Eine Frau und ihre Tochter schützen sich unter einer Decke auf dem Flüchtlingsrettungsschiff Aquarius, das sie vor der Küste Libyens aufgegriffen hat.
    Eine Frau und ihre Tochter schützen sich unter einer Decke auf dem Flüchtlingsrettungsschiff Aquarius, das sie vor der Küste Libyens aufgegriffen hat. (AFP / Gabriel Bouys)
    Was nehmen wir mit? Drei zentrale Erkenntnisse der Tagung mit Bezug zur aktuellen Situation:
    1. Fluchthintergründe haben sich in den vergangenen 200 Jahren kaum verändert, oder: Warum der 20-jährige männliche Araber nur bedingt ein neues Phänomen ist
    Die Gründe, warum Menschen wandern, sind seit vielen Jahrhunderten die Gleichen: Entweder ein Migrant will Chancen wahrnehmen oder er läuft vor Gewalt und Katastrophen weg. Wer wandert? Meistens junge Menschen, Männer zwischen 15 und 30 Jahren - auch das beständig. Dabei ist Migration historisch gesehen ein dynamischer Prozess, ein Hin und Her. Die Fluktuation, das Ein- und Auswandern ist das entscheidende Strukturmerkmal, eben nicht das Ankommen und Bleiben. Das sollten wir auch bedenken, wenn wir derzeit über flüchtende Syrer sprechen.
    Überhaupt ist die Anzahl flüchtender Menschen im Verhältnis zur Weltbevölkerung seit dem Zweiten Weltkrieg kaum gestiegen und verschwindend gering. 60 Millionen zu sieben Milliarden, nicht mal ein Prozent. Jochen Oltmer, Professor an der Universität Osnabrück, macht lediglich eine große Veränderung in puncto Migration aus:
    "Und zwar insofern als vor dem Hintergrund von technischen Möglichkeiten und Neuerungen die Wanderungsdistanzen zunehmen. Das hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg geändert, aber das heißt nicht, dass sich die Hintergründe von Migration verändert haben, dass sich die Konflikte um Migration vermindert haben oder dass die Anforderungen damit umzugehen plötzlich ganz andere werden."
    2. Einwanderer werden anfangs meistens negativ wahrgenommen oder: Warum die Angst vor Islamisierung ein alter Hut ist
    Die Muslime von heute, sind die Polen (oder Italiener) von früher. Vor dem Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik sah sich Deutschland von einer "Polonisierung" bedroht. Hunderttausende Polen wanderten ein und wurden in Preußen als katholisch, aufsässig und umstürzlerisch gebrandmarkt. Die Angst vor dem polnischen Staat auf deutschem Boden ist der heutigen Angst vor einem Kalifat auf europäischem Grund nicht unähnlich.
    "Hier wird die Vorstellung verbreitet, die Menschen, die da kämen, würden einer spezifischen Ideologie und politischen Strategie folgen. Wir wissen aber gleichzeitig, dass es um überaus heterogene Bewegungen geht und dass die Einzelnen, die hier unterwegs sind, gar nicht mit diesen Ideologien in Verbindung zu bringen sind."
    Ob "innere Feinde" aus dem ehemaligen Russlanddeutschland, "Spaghetti fressende" Gastarbeiter oder "Ossis" zu Zeiten der Wiedervereinigung – viele der Vorurteile sind bald nicht mehr der Rede wert, aber anfangs gängiger Reflex.
    Der Tagungs-Veranstalter und Historiker aus Tutzing, Michael Mayer, fasst pointiert zusammen:
    "Im Grunde ist es so, dass immer die jüngste Einwanderungswelle als die schlimmste gilt."
    3. Die Mär von den einfachen Lösungen oder: Warum der Slogan "Grenzen dicht!" nicht funktioniert
    Was passiert, wenn Länder die Grenzen dichtmachen, zeigt sich an den Beispielen Deutschland, Großbritannien und USA im globalen Vergleich ex aequo. Der paradoxe Effekt: Grenzschließungen führen zu mehr Einwanderung. Michael Mayer:
    "1973 gibt es den sogenannten Anwerbestopp, die BRD macht die Grenzen für Gastarbeiter zu. Dann überlegt der Arbeitsmigrant, was er jetzt am besten macht. Er weiß, er kann nicht mehr zurückkehren, also bleibt er in dem Land. Wenn er sich längerfristig niederlässt, dann ist logisch, dass er seine Familie nachholt. Das heißt, wir haben nach den Grenzschließungen eine große Zahl an Familiennachzug."
    In manchen Ländern verdoppelt sich dabei sogar die Zahl der Einwanderer pro Jahr.
    Was dazu auffällt: Die Aufnahme von Migranten ist weniger humanitäres Gebot als Wirtschaftsfaktor. In den USA gründen seit 1942 ganze Produktionszweige auf der Beschäftigung von illegalen Einwanderern. Auch deshalb wird ein möglicher Präsident Donald Trump kaum die Grenzen schließen können, sondern nur so tun als ob. Ähnlich in Deutschland, wo Migranten seit 1945 einen Großteil der Niedriglohnarbeit erledigen und den Deutschen vielfach zum Aufstieg verhalfen.
    Was wir derzeit erleben ist nicht neu, nicht ungekannt oder nie da gewesen, sondern geschichtliche Normalität. Ein Phänomen, das wir ernst, aber besonnen und mit Weitblick, möglichst ohne Vereinfachungen, angehen sollten.