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Flüchtige Glücksmomente

Dass der Mensch kein soziales Wesen sei, sondern von der Furcht vor der Berührung bestimmt werde, behauptet Elias Canetti in seinem Werk "Masse und Macht", das vor genau 50 Jahren erschien. Einzig in der Masse verliere der Mensch seine Angst vor der Berührung, heißt es darin, könne das Individuum den Verlust seiner Individualität als befreiend empfinden.

Von Judith Klein | 14.02.2010
    In ihrem Essay begibt sich Judith Klein auf die Spur Canettis und seiner Massenpsychologie, die in der marxistisch beeinflussten Gesellschaftstheorie wie unter Anhängern der Psychoanalyse immer sehr umstritten war. Judith Klein ist Literaturwissenschaftlerin. Sie lehrt an französischen und deutschen Universitäten.


    Flüchtige Glücksmomente
    Elias Canetti und das Massengrab in uns
    Von Judith Klein

    "Das auffälligste Instrument der Macht, das der Mensch und auch sehr viele Tiere an sich tragen, sind die Zähne. Die Reihe, in der sie angeordnet sind, ihre leuchtende Glätte, sind mit nichts anderem, was sonst zu einem Körper gehört und an ihm in Aktion gesehen wird, zu vergleichen. Man möchte sie als die erste Ordnung überhaupt bezeichnen (...); eine Ordnung, die als Drohung nach außen wirkt, nicht immer sichtbar, aber immer sichtbar, wenn der Mund sich öffnet, und das ist sehr oft. (...) Glätte und Ordnung, als manifeste Eigenschaften der Zähne, sind in das Wesen der Macht überhaupt eingegangen. Sie sind unzertrennlich von ihr und an jeder Form der Macht das erste, das sich feststellen lässt."

    Diese Sätze, die auf die biologischen Bedingungen des Wesens von Macht hinweisen, sind einem der erstaunlichsten Werke der letzten Jahrhunderthälfte entnommen, Masse und Macht von Elias Canetti, das vor 50 Jahren nach jahrzehntelanger Arbeit erschien.

    Einige Grundzüge der umfangreichen kulturanthropologischen Studie treten hier bereits zutage:
    Menschen und Tiere werden in einem Atemzug genannt, ihre Körperlichkeit wird hervorgehoben. Der Einzelne ist angesprochen, trägt doch jeder Mensch Instrumente der Macht an sich. Der eher abstrakte Begriff "Macht" nimmt physische Gestalt an.

    Die politisch-soziale Gegenwartssituation und die historischen Entwicklungen werden vor allem unter dem Gesichtspunkt dessen dargestellt, was sich im Wesentlichen gleich geblieben ist, wobei Wandelbarkeit und Wandel nicht ausgeschlossen werden.

    Und schließlich ist die Nähe des Autors, der 1981 den Nobelpreis für Literatur erhielt, zu den Dichtern erkennbar. Mit ihnen teilte er die Vorliebe für das seit der Aufklärung in den Wissenschaften verpönte, als Trug und Aberglauben verworfene "Ähnlichkeitsdenken", das ungewöhnliche Verknüpfungen herstellt und konventionelle Verbindungen löst. So können der Mund und das Maul in Masse und Macht zu Urbildern der Gefängnisse werden, die sich - dunkel beeinflusst von jenen - aus dem herkömmlichen Kontext von Schuld und Strafe lösen und zu den anatomischen Phänomenen in Bezug treten:

    "Die Zähne sind die bewaffneten Hüter des Mundes. In diesem Raum ist es wirklich eng, er ist das Urbild aller Gefängnisse. (...) Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, dass eine dunkle Beeinflussung dieser [= der Gefängnisse, JK] durch das Vorbild des Mauls wirklich stattgefunden hat. (...) Im Maul bleibt keine wirkliche Hoffnung mehr, es ist keine Zeit und es ist kein Raum um einen. In allen diesen Richtungen ist das Gefängnis wie eine Erweiterung des Mauls. Man kann einige Schritte hin und her gehen, wie die Maus unter den Augen der Katze; (...) und man spürt immerwährend das Zerstörungs-Interesse des Apparates, in dessen Zelle man sich befindet ..."

    Diese Zitate zeigen, dass wir durch Masse und Macht neue Dinge über die Welt und über uns selbst erfahren; Dinge, die auf die Urgeschichte und die Biologie des Menschen zurückgehen und gerade deshalb geeignet sind, unsere geschlossene Begriffssprache zu erschüttern und uns aus unserem alten Selbst herauszuführen.

    Elias Canetti kam im Jahre 1905 in Bulgarien zur Welt. Vorfahren seiner Familie, sephardische Juden, waren Jahrhunderte zuvor aus Spanien vertrieben worden. 1911 zogen seine Eltern nach Manchester, wo Verwandte lebten. Nach dem Tod ihres Mannes kaum zwei Jahre später siedelte die Mutter, deren Jugend sich "zwischen Wien und Bulgarien abgespielt" hatte, mit den drei Söhnen nach Wien über.

    Doch auch dort war kein dauerhafter Aufenthalt: 1916 zog die Mutter mit den Kindern nach Zürich, von wo es einige Jahre später nach Frankfurt ging. Hier erlebte der junge Canetti 1922 nach der Ermordung des deutschen Außenministers Walther Rathenau eine Arbeiterdemonstration; diese Erfahrung habe - so sollte er über 35 Jahre später feststellen - den "wirklichen Keim" zu Masse und Macht gelegt. In Die Fackel im Ohr, dem zweiten Band seiner Autobiografie, schreibt er:

    "Ich hätte gern zu ihnen gehört, ich war kein Arbeiter, aber ich bezog ihre Zurufe auf mich, als wäre ich einer."

    Seit 1924 lebte Canetti wieder in Wien. Hier schloss er ein Chemiestudium ab, hier heiratete er Venetiana - genannt Veza - Taubner-Calderon, deren schriftstellerisches Werk erst nach ihrem Tod im Jahre 1963 weite Verbreitung und Anerkennung finden sollte.

    Am 15. Juli 1927 wurde Canetti wieder Zeuge einer Massendemonstration: Die Wiener Arbeiter protestierten gegen den Freispruch von Mitgliedern einer rechten Frontkämpfervereinigung, die zwei Menschen erschossen hatten:

    "Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm", "

    So heißt es in Die Fackel im Ohr. Aufständische erstürmten den Justizpalast und zündeten ihn an; die Polizei eröffnete das Feuer, jagte den Fliehenden nach und metzelte mehr als neunzig Menschen nieder. Kommende Schandtaten warfen ihre Schatten voraus.

    Nach dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland emigrierten Elias und Veza Canetti 1938 über Paris nach London. Dort forschte Canetti intensiv über die Phänomene der Masse und der Macht: Er hatte erkannt, dass sie der Natur- und Menschheitsgeschichte und insbesondere dem 20. Jahrhundert ihren Stempel aufdrückten und zugleich jeden einzelnen Menschen durchdrangen.

    " "Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes."

    So beginnt Masse und Macht. Der Satz - mit Anklängen an den Leviathan von Thomas Hobbes - gehört zu den markantesten ersten Sätzen der Weltliteratur überhaupt. Er verweist auf das, was in den folgenden Abschnitten und Kapiteln dargelegt wird: Die "unablässige Angst des Gepackt- und Ergriffenwerdens", die das Handeln der Menschen bestimmt:

    "Alle Abstände, die die Menschen um sich geschaffen haben, sind von dieser Berührungsfurcht diktiert. Man sperrt sich in Häuser ein, in die niemand eintreten darf, nur in ihnen fühlt man sich halbwegs sicher. Die Angst vor dem Einbrecher gilt nicht seinen räuberischen Absichten allein, sie ist auch eine Furcht vor seinem plötzlichen, unerwarteten Griff aus dem Dunkel."

    In seinen Distanzen erstarre und verdüstere der Mensch, schreibt Canetti und rückt die Situation ins Blickfeld, die eine Erlösung von jener Furcht verspricht:

    "Es ist die Masse allein, in der der Mensch von dieser Berührungsfurcht erlöst werden kann. Sie ist die einzige Situation, in der diese Furcht in ihr Gegenteil umschlägt. (...) Dieses Umschlagen der Berührungsfurcht gehört zur Masse. (...) Nur alle zusammen können sich von ihren Distanzen befreien. Genau das ist es, was in der Masse geschieht. In der Entladung werden die Trennungen abgeworfen und alle fühlen sich gleich. (...) Ungeheuer ist die Erleichterung darüber. Um dieses glücklichen Augenblickes willen, da keiner mehr, keiner besser als der andere ist, werden die Menschen zur Masse."

    Glücklich mag der Augenblick sein, in dem die Trennwände fallen, in dem der Mensch die "Distanzlasten" abwirft, sich als Person überschreitet und eine Steigerung seiner Erlebnismöglichkeiten erfährt, doch von Dauer kann dieses Glück nicht sein. Die offene Masse trägt ihren Zerfall in sich, nur ein dauernder Zulauf kann die ihr Angehörenden daran hindern, "unter ihre privaten Lasten zurückzukriechen". Das Massengefühl krankt, wie Canetti schreibt, an einer "Grundillusion":

    "Die Menschen, die sich plötzlich gleich fühlen, sind nicht wirklich und für immer gleich geworden. Sie kehren in ihre separaten Häuser zurück, sie legen sich in ihre Betten schlafen. Sie behalten ihren Besitz, sie geben ihren Namen nicht auf."

    Am Ende des Buches wird den ephemeren Glücksmomenten der Masse eine ganz andere - rettende - Möglichkeit entgegengehalten...

    Frühere Massentheorien stellten die Masse als formlosen Rohstoff dar, der Suggestion und Manipulation durch politische Führer ausgeliefert. Canetti, der verschieden gestaltete Meuten und Massen beschreibt, leugnet nicht, dass durch Verführung oder Befehl Massen erzeugt werden können, die im Machthaber aufgehen und libidinös an ihn gebunden sind.

    Doch besonderes Gewicht legt er auf das Konzept der "offenen Masse", die keiner zentralen Führung unterworfen ist und Lusterlebnisse von Persönlichkeitsentgrenzung und Selbstlosigkeit verspricht. Diese Art Masse ist den Machthabern, die Distanzen, Mauern und Sondergesetze benötigen, um ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten, ein Dorn im Auge. Sie sehen in der offenen Masse einen Feind, dessen subversive Energie in soziale Bindung und Disziplin umgewandelt werden soll - etwa durch Massenereignisse wie Krieg oder durch gezähmte Massenerlebnisse in Aufmärschen und in "geschlossenen Verrichtungslokalen", wie sie die Religionen und die modernen sportlichen Veranstaltungen benutzen.

    "Offene Masse" und Macht sind konträre Begriffe: Jene steht für das Leben, für Bewegung und Vielfalt, diese für die Verwandlung von Leben in Tod, für Einheit und Identität.

    "Nichts ist geheimnisvoller und unverständlicher als die Masse."

    Dies schreibt Canetti in Die Fackel im Ohr und versucht, die Quintessenz der offenen Masse - ihre sich ständig verwandelnde Mannigfaltigkeit, ihren dichten Zusammenhang, ihre rauschhafte Erhebung und Entgrenzung - in Bildern wie dem der brausenden Woge oder dem des Wellenmeeres zu erfassen.

    Mehr noch: Der Text verwandelt Verhaltensweisen der offenen Masse - ihr magisches Ähnlichkeitsdenken sowie ihre Neigung, Bilder, Tatsachen und Erklärungen gleichzusetzen - in Methoden des Beschreibens. Dinge, Gesten, Bewegungen werden durch Assoziationen und Analogien in Schwingung versetzt.

    Bemerkenswerte Beispiele für Analogie und dichte Beschreibung bietet der Absatz über das Klettern der Affen. Da, wo die schnelle Aufeinanderfolge der Gesten und der rhythmische Wechsel zwischen den Händen beschrieben werden, vollzieht der Text etwas Ähnliches: Er wogt von der Hand im Urzustand zur Hand an der Börse und beim Handel, der - in der analogischen Konstruktion Canettis - an die Vorgänge beim Klettern erinnert. Der Absatz schließt mit der Feststellung:

    "Die eine Hand hält zäh an dem Gegenstand fest, mit dem sie den Partner zum Handel verlocken will. Die andere streckt sich verlangend nach dem zweiten Gegenstand aus, den sie gern für ihren eigenen haben möchte. Sobald sie diesen berührt, lässt die erste Hand ihren Besitz los (...). In nichts ist der Mensch dem Affen noch heute so nahe wie im Handel."

    Anders als Martin Heidegger, der die menschliche Hand von den "Greiforganen" der Tiere "durch einen Abgrund des Wesens" unterschieden sah, betonte Canetti den "tierischen Ursprung" der Hand, die ihrem äffischen Ursprung noch im Handel ebenso treu bleibt wie in der Geduld, die auf die Affen zurückgeht:

    "Die wahre Größe der Hände ist in ihrer Geduld. Die ruhigen, die verlangsamten Prozesse der Hand haben die Welt, in der wir leben möchten, geschaffen. (...) Wie aber sind die Hände geduldig geworden? Wie haben sie das Feingefühl ihrer Finger gewonnen?"

    Für Masse und Macht trifft zu, was Canetti über das Werk Stendhals schreibt:

    "Alles, was er verzeichnet, alles, was er gestaltet, bleibt dem heißen Augenblick seines Ursprungs nahe."

    Nicht ohne die einschlägige wissenschaftliche Literatur zur Kenntnis genommen zu haben, entwickelte Canetti seine Analyse vor allem aus eigenen Empfindungen und Erfahrungen, aus ethnografischen Berichten über eingeborene Stämme aller Kontinente und aus den archaischen Mythen, die er für kostbare Dokumente hielt. Dabei spürte er die Vorgänge und Wirkungen der Macht auch im "Privaten und Kleinen" auf: In Frage und Antwort, in Befehlen und Urteilen, in den Körperstellungen und immer wieder in den Prozessen der Einverleibung und des Verdauens:

    "Man neigt dazu, nur die tausendfachen Späße der Macht zu sehen, die sich oberirdisch abspielen; aber sie sind ihr kleinster Teil. Darunter wird tagaus tagein verdaut und weiterverdaut."

    Für die "tausendfachen Späße der Macht" drängen sich tausend aktuelle Beispiele auf - etwa die Praxis, vor Verfolgung und Hunger geflüchtete Menschen gegen ihren Willen an den Ort ihres Unglücks zurückzubefördern, oder die Errichtung von Mauern, die eins sind mit der Todesdrohung gegen diejenigen, die versuchen, sie zu überwinden. Auf solche Praktiken trifft Canettis Beschreibung zu:

    "Wer über Menschen herrschen will, sucht sie zu erniedrigen; ihren Widerstand und ihre Rechte ihnen abzulisten, bis sie ohnmächtig vor ihm sind wie Tiere."

    Doch Canettis Machtkritik nimmt vor allem den "zentralste[n], wenn auch verborgenste[n] Vorgang der Macht" ins Visier, nämlich das Verspeisungs- und Verdauungsgeschehen, in dem die Menschen sich das Fleisch der Tiere aneignen und angleichen. Sie zielt auf die skandalöse Weise, in der sie mannigfaltiges fremdes Leben und die eigene Identität in ihrem Einverleibungsprozess zusammenpressen. Die Todesschreie der Tiere denunzieren die Macht-Beziehung des Menschen zum Anderen, zum Sein schlechthin.

    "Über allen Tieren, die der Mensch gefangenhält, hängt sein Todesurteil. (...) So gibt der Mensch seinen eigenen Tod, dessen er sich sehr wohl bewusst ist, an seine Tiere ungestraft weiter."

    In dem Band Die Provinz des Menschen - Aufzeichnungen, die Canetti zunächst als Ventil dienten - heißt es, dass wir ein "Massengrab" in uns tragen und dass beide "Lösungen" unmöglich seien: "sich vom Leben abzuwenden" und "nicht vom Tode der anderen Geschöpfe zu leben":

    "Mit der wachsenden Einsicht, dass wir auf einem Haufen von Toten sitzen, Menschen und Tieren, dass unser Selbstgefühl seine eigentliche Nahrung aus der Summe derer bezieht, die wir überlebt haben, mit dieser rapid um sich greifenden Einsicht wird es auch schwerer möglich, zu einer Lösung zu kommen, deren man sich nicht schämt. (...) Denn in uns ist auch das Massengrab der Geschöpfe."

    In der Reiseerzählung Die Stimmen von Marrakesch, in der Canetti von einem glücklichen dreiwöchigen Intermezzo im Jahre 1954 berichtet, scheinen andere Möglichkeiten auf: Das Sich-Nähren von Speisen, die kein Leben opfern, die als Quelle eines friedlichen Behagens der "Dichte und Wärme des Lebens" keinen Abbruch tun.

    Wie der Einzelne durch das Verschlingen und Verdauen anderer Lebewesen überlebt, so überleben die Machthaber, indem sie physisch oder symbolisch töten. Und wie die Masse nicht ohne die Berührungsfurcht und die Erlösung von dieser gedacht werden kann, so die Macht nicht ohne die Todesfurcht.

    "Aus der Bemühung Einzelner, den Tod von sich abzuwenden, ist die ungeheuerliche Struktur der Macht entstanden."

    So notierte Canetti 1972. Ihm zufolge gründet jede Macht in dem Willen, ja in der Leidenschaft, die anderen zu überleben. Und tatsächlich ist das Töten realer und imaginärer Feinde seit den ältesten Zeiten ein Mittel der Mächtigen, das Potenzial des eigenen Überlebens und die eigene Unverletzlichkeit zu steigern. Das symbolische In-den-Tod-Schicken ist noch heute gang und gäbe - man denke nur an die Ankündigung eines europäischen Politikers, er werde seinen Rivalen "an einem Metzgerhaken aufhängen".

    "Die niedrigste Form des Überlebens ist die des Tötens. So wie man das Tier getötet hat, von dem man sich nährt, (...) so will man auch den Menschen töten, der einem im Wege ist, der sich einem entgegenstellt, der aufrecht als Feind vor einem dasteht. Man will ihn fällen, um zu fühlen, dass man noch da ist und er nicht mehr."

    Canetti war stark von Thomas Hobbes beeinflusst, den er zu den "schrecklichen Denkern" zählte, die er bewunderte. Doch dessen fiktiver Konstruktion eines Herrschaftsvertrags, durch den die Individuen die Überwältigungs- und Tötungsstrategien des Naturzustandes überwunden, sich einer souveränen Macht unterworfen, die Beschränkung ihrer Freiheit akzeptiert und Sicherheit und Frieden gewonnen hätten, stimmte Canetti nur bedingt zu.

    Ihm zufolge bleibt die Todesfurcht des Naturzustandes im Befriedungswerk "Staat" lebendig; denn dieser besitzt zwei Gesichter, ein schützendes und ein vernichtendes, und schafft jederzeit neue Gelegenheiten zum Töten.

    Die neue "Lebenspolitik" kann den Mord wieder auf die Tagesordnung setzen und ihn sogar als Heilsgeschehen drapieren: Im rassistischen Wahn der Nationalsozialisten rief die Lebenspolitik, zum Überlebenswahn gesteigert, nach Mord und versprach Sicherung und Stärkung des einen Lebens durch zielgerichtete Verringerung und Auslöschung des anderen, das zuvor als Träger tödlicher Gefahren stigmatisiert worden war. Es war - wie Primo Levi angedeutet hat - die ethische, intellektuelle und künstlerische Kühnheit der Juden und ihr Widerstand gegen Herrschaft, die den Machtversessenen und den Machthabern missfielen.
    Canetti zog den Begriff des Überlebens dem der Selbsterhaltung vor, dessen friedfertig-freundlicher Beigeschmack ihm ebenso unangemessen erschien wie die Vorsilbe "Selbst"; er betonte dagegen die Bedeutung des Verdrängens und Vernichtens Anderer und rückte das Thema des Überlebens ins Blickfeld.

    Zuweilen überfielen ihn jedoch Zweifel am Gewicht, das er dem Überlebenswillen der Macht beigemessen hatte, und er versah seine Theorie des Überlebens mit einem Fragezeichen. Im Jahre 1977 notierte er:

    "Habe ich genug über das Überleben nachgedacht? Habe ich mich zu sehr auf den Aspekt beschränkt, der zum Wesen der Macht gehört und da ich darauf versessen war, andere, vielleicht nicht weniger wichtige Aspekte außer acht gelassen? Was kann man überhaupt denken, ohne das meiste auszulassen?"

    Absichtlich ausgeblendet hat Canetti aus Masse und Macht den Marxismus und die Psychoanalyse, denn er hatte sich die Aufgabe gestellt, bei Null und ohne jedes Vorbild anzufangen und etwas bis dahin kaum Beachtetes, kaum Gedachtes aufzuzeigen: Die archaischen Schlüsselsituationen und Impulse, die unter "zivilisierten" Verhältnissen fortwirken. Er bekundete geradezu Widerwillen gegen das, was er das "Weiterwursteln" mit alten Konzepten nannte.

    Doch wenn er in Masse und Macht die direkte Auseinandersetzung mit Karl Marx und Sigmund Freud vermied, so war ihm bewusst, dass die Verknüpfung mit beider Werk in der Zukunft nötig sein würde. In einem Brief an Claudio Magris schrieb er:

    "Alles was mit Ökonomie und alles was mit Libido zusammenhängt, wird heute auf tausend Arten untersucht und ausgesprochen. Ich wollte das Fehlende setzen und vorläufig nur dieses. Die Zwischenverbindungen werden bestimmt von anderen und manches vielleicht auch noch von mir gemacht."

    Das öffentliche Echo war zunächst bescheiden; erst die englische Übersetzung von 1962 und die deutsche Neuausgabe von 1973 brachten einen Durchbruch. Für die Mehrheit der Sozialwissenschaftler blieb das Werk, das die wissenschaftlichen Konventionen sprengte, jedoch ein "Skandalon". Sie gefielen sich darin, aufzuzählen, was Canetti alles übergangen habe: das Problem der Selbstdisziplinierung, den "Zusammenhang von moralischer Gewissensbildung und politischer Herrschaft", die "emotionalen Bindungen zwischen den Subjekten".

    Man warf ihm auch vor, psychologische Annahmen, die den Paukenschlag seiner eigenen Thesen hätten dämpfen können - etwa den Berührungswunsch Sterbender - nicht berücksichtigt zu haben. Und schließlich beanstandete man, das Werk öffne kaum Horizonte jenseits seiner düsteren Szenarien.

    Offenkundig hatten die Kritiker vieles überlesen: beispielsweise die Passagen über die emotionale Bindung der Affen, über Schuldgefühle und Melancholie, über die freiwillige Gefangenschaft, über die Geduld der Hände; entgangen war ihnen auch das kleine Kapitel über Stendhals Gesinnung, in dem es heißt:

    "Töten, um zu überleben, kann einer solchen Gesinnung nichts bedeuten, denn man will nicht jetzt überleben. (...) Das Überleben hat seinen Stachel verloren, und das Reich der Feindschaft ist zu Ende."

    Canetti würdigt hier ein Werk, welches Überleben nicht durch den Tod anderer ermöglicht, sondern dadurch, dass es das Leben der anderen nährt.

    Die Sozialwissenschaftler verzichteten weitgehend darauf, Canettis radikale Thesen zum "Befehlsstachel" und zum "Überlebenstriumph" in ihre Untersuchungen zur zeitgenössischen Geschichte aufzunehmen. Dabei hätten diese Thesen helfen können, die Beteiligung an den nationalsozialistischen Verbrechen oder die Wiederaufnahme des gewohnten normalen Lebens - sofern sich die Möglichkeit dazu bot - nach Krieg und Holocaust zu erklären.

    Auch in den Debatten über "Wachstumsbeschleunigung" kam man nicht auf Masse und Macht zurück. Canetti bringt den Wachstumsdrang mit der urgeschichtlichen Vermehrungsmeute zusammen und geißelt ihn in ironischen, ja dramatischen Worten:

    "Es sind ungeheure Massen geworden, die in allen Zentren der Zivilisation noch täglich wachsen. Wenn man aber bedenkt, dass von diesem Wachstum kein Ende abzusehen ist, dass immer mehr Menschen immer mehr Güter erzeugen, dass unter diesen Gütern auch lebende Tiere und Gewächse sind, dass sich die Methoden für die Erzeugung von lebenden und leblosen Gütern kaum mehr unterscheiden, so wird man zugeben müssen, dass die Vermehrungsmeute das folgen- und erfolgreichste Gebilde war, das die Menschheit je hervorgebracht hat."

    Im Jahre 1962 führte Elias Canetti mit Theodor W. Adorno ein Rundfunk-Gespräch über Masse und Macht, in dem dieser sich behutsam, wohlwollend und doch kritisch äußerte. Adorno stimmte der These zu, dass die Barbarei nicht nur in fernen Vorzeiten ihr Wesen getrieben habe, sondern in uns selbst und zwischen uns wirke. Er stellte fest, dass Canettis Theorie des Überlebens seine eigenen Gedanken zur Selbsterhaltung berührten, und erwähnte das Moment, das ihm "den größten Eindruck" gemacht habe:

    "Ihre Theorie des Befehls, die mir deshalb so eminent aufklärend und wesentlich erscheint, weil Sie etwas aussprechen, was (...) sonst hinter der Fassade der Gesellschaft weitgehend verschwindet, dass nämlich (...) hinter allen sozialen, im prägnanten Sinn sozialen, gebilligten, sozial geforderten Verhaltensweisen etwas wie die unmittelbare physische Gewalt, also die Drohung der Vernichtung steht. Und ich glaube, nur, wenn man sich darüber klar ist, dass die Sozietät und damit die Selbsterhaltung des Menschen selber überhaupt zu ihrer Substanz die Todesdrohung hat, nur dann kann man der furchtbaren Verschränkung von Überleben, wie Sie es nennen, und Tod recht inne werden."

    Eine andere Neuheit des Buches stellte Adorno in Frage:
    "der Leser Ihres Buches [wird] nicht ganz das Gefühl los, dass eigentlich in der Entwicklung Ihres Buches die Imagination, die Vorstellung dieser Begriffe oder Fakten - beides geht ja ineinander - doch noch von einer größeren Bedeutung ist als sie selber" [d.h. die Fakten, JK]. "

    In dem alten philosophischen Konflikt zwischen der Auffassung, wonach allein oder vor allem die Kenntnis dessen, was es draußen in der Welt gibt - die Fakten -, wertvoll sei, und der Auffassung, derzufolge es viele wertvolle Beschreibungsmöglichkeiten, Symbole und Bilder unserer selbst und der Welt gebe, sah sich Canetti nicht gezwungen, eine Entscheidung zu treffen. Und er hing keineswegs dem heute immer noch verbreiteten Glauben an, die von der Wissenschaft gelieferten Beschreibungen seien die besten. "Ein Weg zur Wirklichkeit geht über Bilder", stellte er fest.

    Canetti hatte geplant, einen zweiten Band dem Phänomen der Verwandlung zu widmen. Der Plan zerschlug sich, doch das Thema der Verwandlung durchzieht sein gesamtes Werk. In Masse und Macht ist Verwandlung als "Fluchtverwandlung" vor allem eine Technik der Schwachen, mit der sie hoffen, dem unmittelbaren Griff eines Feindes oder dem Zugriff der Macht zu entkommen:

    " "Eine der häufigsten [Verwandlungen, JK] ist die Verwandlung in Tote; sie ist altbewährt und schon von vielen Tieren her bekannt. Man hofft, dass man als Toter losgelassen wird. Man bleibt liegen, und der Feind geht weg."
    Machthabern, die, um zu überleben, ebenfalls auf die Technik der Verwandlung zurückgreifen, gelingt nichts als "Verstellung", die das Innere unverwandelt und unberührt lässt. Dabei unterlassen sie nichts, um die "spontane und unkontrollierte Verwandlung" Anderer zu unterbinden. An ihren Untertanen schätzen sie die unveränderliche Starrheit, die "Permanenz der Steine", wie sie Jean-Paul Sartre am Fall der Antisemiten ein Vierteljahrhundert vor dem Erscheinen von Masse und Macht aufgezeigt hat.

    In Die Stimmen von Marrakesch gibt Canetti dem Phänomen der Verwandlung noch einen anderen Sinn. Über einen kleinen Platz, der ihm als das "Herz" des jüdischen Viertels erschien, heißt es:

    "Ich war dieser Platz, als ich dort stand. Ich glaube, ich bin immer dieser Platz."

    Die Anverwandlung kann unwillkürlich sein, wie bei der Beobachtung des Münzen kauenden Marabu:

    "Ich spürte, wie mein eigener Mund in leise Bewegung geriet, obwohl er nichts enthielt, was er hätte kauen können."

    Einmal - bei der Begegnung mit "der Frau am Gitter" - verwandeln sich die Schritte und das Verhalten des Reisenden:

    "Ich versuchte, so zart und so leise zu sein wie die Stimme selbst und ging Schritte, wie ich sie noch nie gegangen war."

    Verwandlung meint eine Beziehung zum Anderen - Mensch, Tier, Ding -, die von Empathie getragen, ja geradezu die Vollendung der Empathie ist. Sie vollbringt das, was sich in der Masse nur als vorübergehende Erlösung und illusorisches Glück einstellt: Überwinden der Trennwände, Selbstentgrenzung und Selbstlosigkeit. Sie ist das rettende Gegenbild zur einverleibenden Macht.


    In einer 1976 in München gehaltenen Rede sagte Canetti, Verwandlung sei "der einzige wahre Zugang zum anderen Menschen". Und den Dichtern sprach er eine ganz besondere Aufgabe zu:

    "Sie sollten imstande sein, zu jedem zu werden, auch zum Kleinsten, zum Naivsten, zum Ohnmächtigsten. Ihre Lust auf Erfahrung anderer von innen her dürfte nie von den Zwecken bestimmt sein, aus denen unser normales, sozusagen offizielles Leben besteht, sie müsste völlig frei sein von einer Absicht auf Erfolg oder Geltung, eine Leidenschaft für sich, eben die Leidenschaft der Verwandlung."

    Seinen eigenen Beitrag zum universellen Projekt der Verwandlung betrachtete Canetti gleichsam als unvollendet. 1960, im Jahr des Erscheinens von Masse und Macht, notierte er:

    "Zur Verwandlung, meine ich, habe ich einen Schlüssel gefunden und ins Schloss gesteckt, aber ich habe den Schlüssel nicht umgedreht. Die Türe ist zu, man kann nicht hinein. Es wird damit noch viel Plage geben."

    Abgesehen davon, dass es auch Fenster gibt, durch die man "hinein kann", sollten die Leser selbst versuchen, den Schlüssel umzudrehen - ein Versuch, der vielleicht nur dann fruchtbar sein wird, wenn er mit einer Neulektüre der anderen modernen Verwandlungstheorien, des Marxismus, der Psychoanalyse und des Existenzialismus, verknüpft wird.

    Umgekehrt könnte Canettis Beschreibung des Menschen als Träger des "Massengrabs der Geschöpfe" jene Verwandlungstheorien von gewissen Illusionen befreien. Hoffnung darf - wie Canetti schrieb - "nur aus der schwärzesten Kenntnis" fließen, wenn sie nicht "zum höhnischen Aberglauben" verkommen soll.