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Flüchtlinge aus Libyen
Handverlesen nach Europa

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen bemüht sich, Menschen aus den libyschen Internierungslagern zu holen. Viele Orte gelten als brutale Stätten, in denen bewaffnete Banden Menschen foltern und misshandeln. Wer es nach Niger schafft, kann von dort aus eventuell weiter nach Europa - unter bestimmten Bedingungen.

Von Bettina Rühl |
Westafrikaner in Niger, nachdem sie aus Libyen wegen der Gewalt dort geflohen sind.
Nur ein Bruchteil der Flüchtlinge aus den libyschen Lagern darf später nach Europa im Rahmen eines so genannten Resettlement-Programms. (AFP / ISSOUF SANOGO)
Der junge Äthiopier hat kurze Rasta-Locken, trägt Jeans und T-Shirt. Der 27-Jährige wirkt energisch, strahlt Aufbruchstimmung aus. In wenigen Tagen oder Wochen wird er von Niger nach Frankreich fliegen. Ganz legal.
"Ich habe damit nicht gerechnet - ich hatte einfach das große Glück, diese Möglichkeit zu bekommen, nachdem ich hier im Niger angekommen war."
Der junge Äthiopier heißt Shetaye Berhanu und ist als politischer Flüchtling anerkannt. Um ihn und seine Mitbewohner vor weiterer Verfolgung zu schützen, findet unser Gespräch nicht in seiner Unterkunft statt, sondern in einem Büro des UN-Flüchtlingshilfswerks in Niamey, der Hauptstadt der Republik Niger. Berhane wurde vor elf Monaten vom UNHCR aus einem Internierungslager in Libyen nach Niger evakuiert.
Niger als Zwischenstopp
Weil die Lebensbedingungen in den libyschen Lagern unmenschlich sind, bemüht sich das UN-Flüchtlingshilfswerk darum, möglichst viele Menschen von dort zu befreien. Niger ist eine Zwischenlösung, sagt Alessandra Morelli, Leiterin der UNHCR-Mission im Niger:
"Die nigrische Regierung hat uns erklärt, dass sie die Flüchtlinge aus Libyen willkommen heißt - aber nur vorübergehend. Sie könne nicht alle Menschen aus den libyschen Internierungslagern dauerhaft aufnehmen, weil im Niger schon 300.000 Flüchtlinge leben."
Asylraum ausgeweitet
Der Niger ist auch für Shetaye Berhanu nur ein Zwischenstopp. Der junge Äthiopier hat aber Glück gehabt: Mehrere, überwiegend europäische Staaten haben sich bereit erklärt, insgesamt 6.300 Überlebende der libyschen Internierungslager aufzunehmen. Shetaye Berhanu ist einer von ihnen, er darf bald legal nach Frankreich einreisen. Wie die meisten war er von der libyschen Küstenwache in eines der Gefängnisse gebracht worden - finanziert von der Europäischen Union. Europa bezahlt die libysche Küstenwache, damit sie Boote mit Migranten auf dem Mittelmeer abfängt und verhindert, dass die Menschen nach Europa kommen. Nur ein Bruchteil von ihnen darf anschließend doch noch nach Europa im Rahmen eines so genannten Resettlement-Programms:
"Das ist ein innovativer Ansatz, um Menschen aus libyschen Lagern zu befreien. Wenn wir das nicht tun, werden sie für immer im Gefängnis bleiben. Wir brauchten eine neue Idee, um diese Menschen evakuieren zu können. Wir können ihre Anträge in Libyen nicht prüfen, weil keine europäische Botschaft ihr Personal nach Tripolis schickt. Also haben wir den Asylraum von Libyen nach Niger ausgeweitet. Und hierher können die deutsche oder die französische Regierung entsenden - und das tun sie auch!"
erklärt Alessandra Morelli vom UNHCR.
Intransparentes Auswahlverfahren
Zwölf Länder beteiligen sich, darunter auch Deutschland. Bis auf Kanada und die Schweiz sind alle Mitglieder der Europäischen Union. Mitarbeiter des UNHCR führen in Libyen und Niger die ersten Interviews mit den Flüchtlingen, treffen eine Vorauswahl. Anschließend kommen Delegationen der Aufnahmeländer nach Niger, interviewen die Flüchtlinge nochmals, treffen ihre Auswahl. Den Wunsch des Deutschlandfunk, die deutsche Delegation bei der Auswahl begleiten oder wenigstens nach ihren Kriterien dabei befragen zu können, lehnte das zuständige Innenministerium ab. Nur die Zahlen gab es bekannt: Deutschland hat 276 Flüchtlinge aus Libyen aufgenommen. Ob weitere folgen werden, wird laut Innenministerium noch geprüft:
"Aus meiner Sicht ist das Resettlement-Programm ein Erfolg. Ich rede jetzt nicht über Zahlen, aber das Konzept ist unglaublich positiv! "
Ganz unwichtig sind die Zahlen aber nicht. Laut Morelli hat das UNHCR 53.000 Flüchtlinge in libyschen Internierungslagern als schutzberechtigt registriert. Migranten werden nicht gezählt, das UNHCR ist nur für politische Flüchtlinge zuständig. 6.300 Plätze für die Davon-Gekommenen aus Libyen ist also eine sehr bescheidene Zahl.
Shetaye Berhanu ist froh, dass er dabei ist. Er erzählt seine Geschichte so: 2017 sei er vor politischer Verfolgung in Äthiopien geflohen, wollte nach Europa. Auf seinem Weg durch Libyen hätten ihn Bewaffnete gekidnappt und an das Schmuggler-Kartell eines gewissen Ben Walid verkauft:
"Nachdem ich an Ben Walid verkauft worden war, wurde ich von seinen Leuten fünf Monate lang festgehalten. Sie haben uns alle sehr schlecht behandelt, das war nur schwer zu ertragen. Natürlich gab es nicht genug zu essen und zu trinken, und die hygienischen Verhältnisse waren schlecht - aber das Hauptproblem war, dass sie uns ständig geschlagen haben. Sie forderten von jedem 5000 US-Dollar. Und solange du nicht zahlst, schlagen sie dich immer weiter."
Weil sie Berhanu längst ausgeraubt hatten, hätten die Kidnapper seine Familie erpresst. Die habe schließlich ihr Haus verkauft, um zahlen zu können - und Berhanu sei frei gekommen. Er habe immer noch nach Europa gewollt, die Küste erreicht, nochmals gezahlt, sei in ein Schlauchboot gestiegen und nach wenigen Stunden von der libyschen Küstenwache gefangen worden. Danach sei er wieder interniert, wieder geschlagen worden. Auch Schein-Erschießungen waren laut Berhanu an der Tagesordnung.
Dann seien Mitarbeiter der UN-Organisation aufgetaucht, um Flüchtlinge für die Evakuierung zu registrieren. Natürlich hätten alle auf die Liste gewollt:
"Dafür musste man gegen andere Flüchtlinge kämpfen, sonst hatte man keine Chance, registriert zu werden. Wenn Du Glück hast, wirst du registriert - sonst musst du bleiben. Irgendwann sagen sie: Stopp! Wir haben genug! Und damit ist deine Chance verstrichen."
Sechs Wochen später konnte Berhanu nach Niger fliegen, erzählt er. Etliche andere, mit denen er sein Schicksal in den vergangenen Monaten teilte, seien immer noch dort. Auch Epharim aus Eritrea, mit dem sich Berhane schon im ersten Internierungslager angefreundet hat. Wie Berhanu erzählt, telefonieren die beiden regelmäßig miteinander:
"Er hat dasselbe erlebt wie ich, er wurde auch von der Küstenwache gefangen, er ist immer noch dort und leidet sehr. Ich habe keine Worte für das Glück, das ich darüber empfinde, dass ich es geschafft habe. Aber ich bin sehr traurig darüber, dass viele meiner Freunde noch dort sind. Ich denke oft an sie und rufe sie an. Vor allem Ephraim. Zu manchen haben wir auch den Kontakt verloren, wir wissen nicht, was aus ihnen geworden ist. Manche Menschen sind auch im Meer ertrunken. Das macht mich sehr traurig."