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Flüchtlinge gestern und heute
"Das Leid ist das gleiche"

"Vertreibung und Flucht, damals und heute, da gibt's keine Unterschiede": In Erfurt haben sich Heimatvertriebene im Zweiten Weltkrieg und Flüchtlinge aus heutigen Krisengebieten über ihre Erfahrungen ausgetauscht. Ob die beschwerliche Flucht über die Elbe oder das Mittelmeer ging - die Geschichten der Flüchtenden gleichen einander.

Von Henry Bernhard | 18.11.2015
    Suchschilder im Lager Friedland, aufgenommen im November 1955: Die britische Armee hatte im September 1945 in dem kleinen Ort Friedland bei Göttingen ein Auffanglager für Kriegsheimkehrer, Flüchtlinge und Vertriebene eingerichtet.
    Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Deutschland Auffanglager für Flüchtlinge eingerichtet. (picture-alliance/ dpa)
    Ein dünnes Gemurmel durchzieht den Raum im Bildungszentrum St. Martin der Katholischen Kirche in Erfurt. Ein Flüchtling aus Syrien sitzt in der ersten Reihe und redet angeregt mit einer jungen Frau – auf Englisch. Sonst zwei Dutzend, meist ältere, Leute, verteilt in den Sitzreihen. Manche kennen sich und zeigen sich Orte auf einer Karte des Sudetenlandes, die an der Wand lehnt.
    Ein Iraker muss noch per Handy durch die engen, verwinkelten Gassen der Erfurter Altstadt gelotst werden. Aber es geht ohnehin mit zwei Deutschen los: Beate Platzdasch und Horst Müller waren auch Flüchtlinge, als Kinder, 1945.
    Beate Platzdasch: "Ich erinnere mich zum Beispiel ganz deutlich, wie ich früh aus dem Bettchen geholt wurde. 'Und jetzt geht's los, jetzt geht es hinaus!'. Es war am 25. Oktober 1945. Es regnete."
    "Wer umfiel, wurde erschossen"
    Horst Müller: "Früh um 4 Uhr haben sich diese Leute dort versammelt und meine Eltern auch. Wir waren sieben Kinder, ich war das Kleinste. Wir wussten nicht, wohin."
    Beate Platzdasch: "Ein kleines Mädchen von fünf Jahren. Ich hatte da ein Köfferchen dabei mit meinen ganzen Habseligkeiten, für meine Püppchen. Und da kommt ein tschechischer Soldat, er hat ihn geöffnet, und dann hat er den ganzen Inhalt in die Elbe geworfen. Das war für mich der größte Schmerz."
    Horst Müller: "Wir marschierten los, wir wurden durch Partisanen getrieben, die links und rechts ritten. Dieser Marsch dauerte drei Tage und drei Nächte, ohne Verpflegung, ohne Wasser, ohne alles. Und wer umfiel, wurde erschossen."
    Geschichten von Fluchtwegen und vom Ankommen in Deutschland
    Die beiden erzählen ohne Anklage, aber mit deutlichem Schmerz in der Stimme. Ihre Wege nach Deutschland waren lang und beschwerlich. Ständig mussten sie wechseln – von der Straße aufs Schiff, vom Schiff in die Bahn, auf Pferdewagen. Geschichten, wie man sie auch von den heutigen Flüchtlingen kennt. Nur, dass die nicht über die Elbe, sondern über das Mittelmeer kamen. Daran müssten beide, Beate Platzdasch und Horst Müller, heute angesichts der Flüchtlingsbilder oft denken.
    Horst Müller: "Ich möchte vielleicht voranschicken: Vertreibung und Flucht, damals und heute, da gibt's keine Unterschiede, überhaupt keine. Heimat zu verlieren, ob das die Syrer sind oder die Iraker oder die Deutschen damals, das spielt eigentlich keine Rolle. Das Leid ist das Gleiche."
    Und so klangen die Geschichten von Yaman Samur aus Syrien und Kaisar Abdali aus dem Irak recht ähnlich wie die von vor siebzig Jahren. Sie berichteten von der Unsicherheit zu Hause, von Verhaftungen und dem abgebrochenen Studium. Von Fluchtwegen. Und vom Ankommen in Deutschland.
    Integration der Flüchtlinge damals und heute
    Der erste Eindruck in Deutschland sei für ihn die Sicherheit gewesen, die Sicherheit eines friedlichen Landes – im Gegensatz zu seiner Heimat Syrien. Als zweites fiel ihm auf, dass ihn im Gegensatz zu anderen Ländern, durch die er gekommen ist, viele Menschen willkommen hießen. Das hätte seine Stimmung sehr gebessert. Auch Horst Müller erinnert sich, wie es war, als sie nach Wochen auf der Flucht endlich in Thüringen ankamen.
    "Ausgestiegen, man kümmerte sich um uns. Und ich muss sagen: Die Integration lief gut. Es gab sicherlich auch Spannungen. Aber ich bitte Sie: Wenn jemand kommt und Sie haben eine Dreizimmerwohnung, und einer sagt, 'Das Schlafzimmer wird jetzt zwangsbesetzt!', gibt's Spannungen, das ist ganz klar. Aber im Großen und Ganzen, muss ich sagen, lief die Integration recht gut. Und ich bin froh, dass es auch heute so ist, dass die Integration in Deutschland so viele Helfer hat."
    Kein Verständnis für Demonstrationen gegen Flüchtlinge
    Für Beate Platzdasch und Horst Müller ist Thüringen Heimat geworden. Kaisar Abdali aus Bagdad kann das noch nicht behaupten. Am meisten fehle ihm – auch nach drei Jahren und trotz mehrerer Sprachkurse – der Kontakt mit Deutschen:
    "Die Ausländer – das ist ein richtiges Problem – haben keinen Kontakt. Immer sitzen sie zu Hause beim Fernseher, beim Radio. Aber wir haben sicher keinen Kontakt mit den deutschen Leuten."
    Nach der Veranstaltung, als alle noch zusammen stehen und sich unterhalten, schüttelt Beate Platzdasch den Kopf über Menschen, die gegen Ausländer auf die Straße gehen:
    "Nein, das kann ich nicht verstehen! Weil die Menschen zu wenig über solche Verhältnisse wissen, über solche Notsituationen; wie man sich fühlt, wenn man bedroht wird, wenn man sich nicht mehr sicher fühlt."
    In den letzten Monaten denke sie oft an ihre Flucht zurück, sagt sie noch im Gehen.