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Flüchtlinge in Serbien
Ungarns Grenzregime und die Folgen auf der Balkanroute

Vor Monaten noch ließ Ungarn bis zu 35 Menschen pro Tag aus Serbien über seine Grenze kommen, mittlerweile sind es nur noch zehn. Seit Ungarn der brutale Vorposten der Festung EU geworden ist, droht Serbien vom Transitland zur größten Wartehalle für Flüchtlinge im Herzen Europas zu werden.

Von Martin Gerner | 31.03.2017
    Ungarische Soldaten patrouillieren in der Grenze zu Serbien.
    Ungarische Soldaten patrouillieren an der Grenze zu Serbien. (dpa / MTI / Sandor Ujvari)
    "Ich verspreche, ich werde etwas für euch tun."
    Georgia, die Leiterin im Flüchtlingslager Krnjaca bei Belgrad, ist umringt von erwachsenen Männern an diesem Morgen. Ja, sie werde etwas tun für sie. Es gibt Klagen über das Essen. Vor allem möchten die Männer wissen, wann ihre Familien raus aus dem Lager können und über die ungarische Grenze, von wo sie weiter nach Westeuropa wollen.
    Sie sei hier, um die Flüchtlinge mit Nahrung und Kleidern zu versorgen, so die Lagerchefin. Was sie nicht könne, sei die ungarische Grenze zu öffnen. Aber sie werde jemanden schicken, um mit den Ungarn zu verhandeln.
    "Die Psyche leidet am meisten"
    Müde, ratlose, misstrauische Gesichter bleiben zurück. Die Männer trotten zurück in ihre Baracken, wo auf jede Familie eine Zimmer wartet, eng wie ein Schlauch. Zwei Doppelbetten für vier bis sechs Personen. Ein Schrank. Ein Tisch. Dazwischen Platz, um einmal Luft zu holen. Zwei Duschen auf dem Gang für 100 Menschen. Krnjaca beherbergt viele afghanische und pakistanische Flüchtlinge. Oft sind sie ein Jahr und mehr auf der Flucht, mit Kindern und Koffer:
    "Die Psyche leidet am meisten", so dieser Familienvater.
    "Ich erlebe mich zunehmend aggressiv. Ich fange an, mein eigenes Kind zu schlagen. Obwohl ich das gar nicht möchte. Die Umstände hier machen einen verrückt. Meine Kinder sollten Unterricht bekommen, in die Schule gehen, spielen, ein Fahrrad haben. Stattdessen hören sie von Polizei und Gewalt, sehen Schmuggler und Inhaftierungen. Meine vierjährige Tochter fragt mich danach. Das macht einen fertig als Eltern."
    Deutschland bleibe sein Ziel, sagt er. Auch wenn er nicht wisse, ob und wann er es erreichen werde. Mit seinem Handy lernt er Deutsch, nachdem er und die Tochter einen kurzen Sprachkurs in Belgrad besucht haben.
    "Guten Tag, wie geht es Ihnen? Möchten Sie etwas Milch?"
    "Ja. Danke. Das ist sehr lieb von Ihnen."
    Ein halbes Jahr Haft für den Grenzübertritt
    Die ungarische Polizei hat Flüchtlinge abgefangen, die über die Grenze aus Serbien einwandern wollten.
    Flüchtlingen, die aus Serbien kommen und versuchen über die ungarische Grenze zu gelangen, droht im schlimmsten Fall ein halbes Jahr Haft. (picture alliance / dpa / Zoltan Gergely Kelemen)
    Von Belgrad sind es zwei Autostunden durch die Vojvodina, über Novi Sad, nach Subotica. Am Grenzübergang Horgos kauern, wenige 100 Meter neben der Abfertigung für Auto- und Lastverkehr, ein halbes Dutzend Flüchtlinge im Dunkel der Nacht unter Planen. Am nächsten Morgen sollen sie in der sogenannten Transitzone den ungarischen Grenzern übergeben werden:
    "Dort stehen die Container für die Internierung. Wir sind jetzt direkt am Grenzzaun. Nur hier gelangt man offiziell nach Ungarn. Im neuen Gesetz der Ungarn gibt es ein halbes Jahr Haft für jeden versuchten Grenzübertritt. Das ist grausam für uns. Unerträglich. Gott stehe uns bei."
    Ahmed ist studierter Psychologe aus Kabul. Jetzt sind seine Dienste nur als Übersetzer gefragt:
    "Ungarn will jetzt 3.000 paramilitärische Truppen an seiner Grenze stationieren, hochbewaffnet, um die Flüchtlinge von seiner Grenze abzuhalten. Im Internet kann man sehen, dass sie auch bereit sind, diese Waffen einzusetzen. Jeden Flüchtling auf ihrem Territorium sehen sie als Angriff auf ihr Land. Im Notfall würden sie die Flüchtlinge sogar umbringen - das habe ich im Netz gelesen."
    Vor Monaten noch ließ Ungarn bis zu 35 Menschen pro Tag passieren. Jetzt ganze zehn am Tag. Bei derzeit 8.000 Flüchtlingen in Serbien bräuchte es über zwei Jahre, um den Mythos vom Transitland Serbien lebendig zu halten.
    Seit Ungarn der brutale Vorposten der Festung EU geworden ist, droht Serbien zur größten Wartehalle für Menschen im Herzen Europas zu werden. Auch Zoran Ikonic, Germanist und Journalist in Belgrad, betrachtet die Verschärfungen skeptisch:
    "Normalerweise dürfen die Ungarn nur die Flüchtlinge nach Serbien zurückschicken, die innerhalb der Pufferzone von acht Kilometern aufgegriffen werden. Aber sie tun es trotzdem. Sie nutzen bürokratische Tricks. Eigentlich gesetzwidrig."
    Bisher, findet Zoran, habe sich Serbien, sein Land, ohne Tadel verhalten. Und nun?
    "Serbien hat bisher sein schönes Gesicht gezeigt in der Flüchtlingskrise. Warum? Weil wir Transitland sind. Man weiss, dass die Flüchtlinge hier nicht bleiben wollen. Also keine Gefahr von ihnen droht. Und keine Notwendigkeit, dass man feindlich gestimmt ist. Aber das könnte sich ändern. Wenn man sieht, dass es sich hier staut und die Menschen nicht mehr wegkommen. Der Frust wird steigen."
    Das Bild von Serbien als Transitland, es wankt mächtig. Was Belgrad von der EU und Europa erwartet?
    "Die serbischen Behörden fordern die EU auf: Schafft eine gemeinsame EU-Politik! Und wir werden uns dem anpassen. Die größte Angst der serbischen Behörden ist, dass Serbien eine Art Parkplatz für Flüchtlinge wird. Was aber faktisch schon passiert."
    Verdrängen der bitteren Wahrheit
    Die Flüchtlinge versuchen, einen Teil dieser bitteren Wahrheiten zu verdrängen, Tag für Tag. Verdrängen hilft überleben. Narges, die junge Afghanin, lernt mit ihrem Vater weiter Deutsch. Auch wenn sie den Namen Nena noch nie gehört hat, dies kann sie:
    "99 Luftballons auf ihrem Weg zum Horizont."
    Darf man so einer Familie ihren Traum nehmen? Und wenn, mit welchen Folgen?