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Flüchtlinge
Kleine Kinder, große Integration

Der Flüchtlingszustrom stellt auch Schulen vor Herausforderungen. Allein nach Schleswig-Holstein kamen im vergangenen Jahr doppelt so viele Flüchtlinge wie 2013. Die Gemeinschaftsschule in Stockelsdorf bei Lübeck setzt bei der Integration auf Spiel und Zurückhaltung.

Von Katrin Bohlmann | 05.02.2015
    Eine Schülerin einer zweiten Klasse schreibt am 19.10.2012 in einer Schule in Hamburg das ABC an die Tafel.
    Viele Kinder haben ein Gespür für den Umgang mit neuen, traumatisierten Mitschülern. (Archivbild) (pa/dpa/Reinhardt)
    Die 16-jährige Scharistan sitzt zusammen mit drei Mitschülern in der 8a zur Gruppenarbeit an einem Tisch. Nach den Weihnachtsferien ist sie in die Klasse gekommen. Sie ist zusammen mit ihrer Familie aus dem Irak geflüchtet. Die IS-Terrormiliz hatte ihr Dorf überfallen. Jetzt schaut sie aufmerksam und doch schüchtern zu ihren Schulkameraden in der Gemeinschaftsschule Stockelsdorf. Sie scheint von ihren Lippen ablesen zu wollen, was sie sagen. Denn Scharistan konnte bis vor einer Woche kein Wort Deutsch. Alles war ihr fremd in diesem Land. Jetzt lernt sie die neue Sprache. Mit dem Spiel Scrabble.
    "Willst Du nochmal Guten Abend legen? Ja,... doch ist richtig. Hier ein B.... ein N... und ein D. Willst Du es einmal lesen? Guten Abend!"
    Klassenlehrerin Claudia Fietze hatte die Idee zu Scrabble. Eine einfache und effektive Methode. Als DAZ-Lehrerin – Deutsch als Zweitsprache – weiß sie, dass traumatisierte Kinder nicht gerne reden und keinen anderen angucken mögen. Mit dem Spiel erreicht sie das Mädchen. Fietze sagt: "Das heißt, es ist eine kleine Gruppe in der Klasse und wir haben einen Jungen gefunden, der übersetzen kann, weil er aus dem Grenzgebiet kommt. Und die Mädchen versuchen einzelne Wörter zusammen mit ihr zu erarbeiten kann. Mit Scrabble. Weil sie hat auch ein anderes Schriftsystem. Sie schreibt nicht wie wir Deutschen, sondern sie hat arabische Schrift. Einmal müssen wir sie integrieren, dass sie sich wohlfühlt und dass sie sich im Alltag unterhalten kann. Und gleichzeitig müssen wir mit ihr aber auch die Sachen üben, die sie für den Unterricht braucht."
    "Sie hat schon viel gelernt"
    Ihr kleiner Dolmetscher Achmed freut sich, ihr helfen zu können: "Sie macht sich gut, sie hat schon viel gelernt." Scharistan sagt: "Hallo, ich heiße Scharistan und ich bin 16 Jahre alt." Auch die anderen Mitschüler haben Scharistan mit offenen Armen empfangen und unterstützen sie, sich in ihr neues Zuhause einzuleben, ob im Unterricht oder in den Pausen, beobachtet Lehrerin Fietze.
    "Sie mögen das sehr gerne, weil sie jetzt das Gefühl haben, gebraucht zu werden. Und weil sie eben diese Info nicht mehr aus dem Fernsehen bekommen. Ich habe zum Beispiel Weltkunde zur Zeit mit den Schülern. Normalerweise würden wir darüber sprechen, was im Fernsehen für Informationen gestern Abend um acht gezeigt wurden. Und jetzt haben wir die Informationen live. Also jetzt ist Fernsehen bei uns im Unterricht sozusagen..."
    Susann stellt sich vor: "Hallo, ich heiße Susann und ich bin elf Jahre alt." Scharistans kleine Schwester Susann hat auch schon Freunde in ihrer Klasse gefunden. Elena und Svenja kümmern sich um die kleine Irakerin. Am Anfang haben sich die Elfjährigen nur mit Händen und Füßen unterhalten, erzählt Svenja. "Wir haben sie gefragt, ob sie Hunger hat und sie wusste natürlich nicht, was das bedeutet. Und dann hat einer von uns gesagt Hamham und da wusste sie dann, dass das bedeutet, ob sie Hunger hat.... (lacht) Jetzt ist es schon leichter, sich mit ihr zu unterhalten. Ich glaube, sie findet uns nett und wir mögen sie auch total gerne."
    Kinder mit Einfühlungsvermögen
    Susanns Mitschüler können nur erahnen, was sie im Irak und auf der Flucht durchgemacht hat. Elena und Svenja haben Verständnis für ihre Situation. "Uns interessiert das natürlich schon und wir würden sie auch gerne fragen, warum sie gekommen ist, aber natürlich tun wir das nicht, weil erstens würde sie uns nicht verstehen und wenn, dann glaube ich nicht, dass sie darüber reden würde, weil sie wird ja nicht aus Spaß gekommen sind."
    "Man kennt halt nur die Situation aus dem Fernsehen. Und da ist es sehr heftig dargestellt. Und man kann sich das gar nicht richtig vorstellen, dass das alles so echt ist, weil in Deutschland ist das jetzt alles total friedlich eigentlich. Und dass da so heftig ist, das ist einfach unvorstellbar."
    Zur Zeit sind 36 Flüchtlingskinder in der Stockelsdorfer Gemeinschaftsschule in Schleswig-Holstein. Und es kommen immer mehr. Schulleiter Michael Puls ist dankbar, dass seine Schüler so hilfsbereit und verständnisvoll reagieren. Er hat dafür mit bürokratischen und logistischen Problemen zu kämpfen. Denn die Flüchtlingskinder kommen immer schubweise und ziemlich kurzfristig. "Wir müssen dann sofort reagieren. Die ersten Schwierigkeiten sind schon bei der Aufnahme in das Schulverwaltungsprogramm. Das manchmal nicht ganz klar ist, wie lange sie zur Schule gegangen sind oder wann sie das erste Mal die Schule besucht haben. Und dann müssen wir uns so langsam weitertasten", sagt Puls.
    Schüler dolmetschen für Eltern
    Integration ist jetzt das Wichtigste, sagt der Schulleiter. Und das geht nur über die Gemeinschaft. Er wünscht sich, dass die ganzen Familien die angebotenen Sprachkurse besuchen. Denn: "Ich könnte mir gut vorstellen, dass es der ganzen Familie helfen würde. Und sehr oft, kommen wir in die Situation, dass dann gesagt wird, Behördengänge oder Arztbesuch - jetzt müssen wir den Schüler praktisch freistellen, weil er schon ein bisschen mehr Deutsch kann als die Erwachsenen. Und das finde ich nicht so ganz glücklich."
    Die beiden Flüchtlingskinder aus dem Irak sind auf dem besten Weg, sich in Deutschland einzuleben. Mittags geht Scharistan alleine nach Hause. Den Kopf gesenkt, mit ernstem Blick. Sie wirkt nachdenklich. Gekleidet ist wie jedes andere Mädchen, modisch. Wie es ihr wirklich geht, ob sie Heimweh oder Sorgen hat, bleibt erst einmal ihr Geheimnis. Aber in der Gemeinde Stockelsdorf wird alles getan, damit sie sich willkommen fühlt.