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Flüchtlingselend in Calais

Das Ziel vieler Flüchtlinge aus den Kriegs und Katastrophengebieten in Afrika und Asien war lange Zeit Großbritannien. Der Weg dorthin führt über die nordfranzösische Hafenstadt Calais. Bei guter Sicht sind von Calais aus die Kreidefelsen von Dover zu sehen. Doch erreichen können Flüchtlinge diese Felsen nur selten - sie stecken in Calais fest, wo es nicht einmal mehr ein Flüchtlingslager gibt.

Von Bettina Kaps | 03.04.2009
    Es ist früher Abend. Von allen Seiten strömen Flüchtlinge zum Hafengelände: Ihr Ziel ist eine Lagerhalle. Dort stellen sie sich in einer Schlange an und warten. Pünktlich um halb sieben fahren die Wagen der Hilfsorganisation Salam vor. Einige Mitarbeiter haben schon den ganzen Nachmittag über Gemüse geputzt und Eintopf gekocht. Jetzt schleppen sie die schweren Kanister mit dem Essen auf eine Rampe. Monique kommt einmal pro Woche aus dem 70 Kilometer weit entfernten Badeort Le Touquet nach Calais, um hier zu helfen.
    "Wir sind eine Gruppe, und jeden Tag ist jemand von Le Touquet hier. Wir wissen, dass das Problem groß ist, dass es aussichtslos ist, aber sie sind hier, sie haben Hunger, und wir haben die Pflicht, etwas zu tun."
    Neben Monique steht eine blonde Frau und häuft üppige Portionen auf die Plastikteller.

    "Wir teilen derzeit jeden Abend rund 600 Portionen aus, am Samstag waren es noch mehr. Wir wollen, dass jeder hier satt wird. Außerdem halten wir immer ein paar Plastiktüten mit Essen bereit, für die anderen, die im Dschungel geblieben sind und nicht kommen konnten, weil sie vielleicht krank sind."
    Den Hunger können die Hilfsvereine stillen, aber Unterkünfte dürfen sie nicht zur Verfügung stellen, das ist gesetzlich verboten. Deshalb kampieren die Flüchtlinge rechts und links der großen Ausfallstraße am Stadtrand, dem so genannten Dschungel, wo es weder Wasser noch Toiletten gibt. Ein 15-jähriger Afghane setzt sich mit seinem Teller auf den Bordstein und schaut aufs Hafenbecken mit den Fähren.
    "Das ist die schwierigste Grenze von allen. Manchmal können wir die Lichter von England sogar sehen, aber wir kommen nicht rüber. Egal, ob ich noch fünf Monate brauche, oder ein Jahr oder zwei - ich werde es schaffen, so Gott will."
    Calais besitzt einen der größten Häfen in Europa. 60 Fähren verkehren hier täglich mit Großbritannien. Deshalb ist die Stadt zum letzten Nadelöhr auf der Flucht nach Norden geworden. Und zum Schandfleck der europäischen Flüchtlingspolitik, wie viele sagen.
    Zuerst kamen Kosovo-Albaner, die der Krieg vertrieben hatte. Das war vor zehn Jahren. Damals eröffnete das Rote Kreuz im Nachbarort Sangatte ein Notaufnahmelager. Bald zog es auch Menschen aus Afghanistan, Irak und anderen Krisengebieten hierher, Sangatte wurde zur letzten Transitstation auf dem Weg nach Großbritannien.
    Doch im Jahr 2002 gab Nicolas Sarkozy, der damals noch französischer Innenminister war, dem Druck der britischen Regierung nach: Er ließ das Flüchtlingslager schließen und auflösen. Aber damit war das Problem nicht gelöst, im Gegenteil. Die Flüchtlinge kommen weiterhin. Nur dass sie jetzt kein Dach mehr über dem Kopf haben.
    Das finden viele Bürger unerträglich. Sie akzeptieren es nicht, dass die Flüchtlinge in und um Calais leben müssen wie Tiere. Zum Beispiel Mireille Lecoustre . Wenige Straßen vom Rathaus mit dem flämischen Glockenturm entfernt steht sie in ihrer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung und spült Geschirr.
    Auf dem Boden sind Steppdecken ausgebreitet, darauf liegen drei Männer, sie haben die Wolldecken bis über die Köpfe gezogen, so als ob sie sich verstecken wollten. Es sind Afghanen. In der Nacht, erzählt die 55-jährige Frau, hätten sie einen weiteren Versuch unternommen, sich in einem Lkw zu verstecken. Dabei seien sie der Polizei direkt in die Arme gelaufen.
    "Im Moment haben wir richtig boshafte Bereitschaftspolizisten hier. Gewiss tun sie ihre Pflicht, aber einige behandeln die Illegalen wie Dreck, lassen Hunde auf sie los, packen sie an den Haaren und treten mit ihren schweren schwarzen Stiefeln auf sie ein. Wenn die jungen Kerle dann zu mir kommen, hole ich gleich die Medikamente raus. Das sind keine kleinen Blessuren, die sie haben, das sind Blutergüsse, die sind so groß wie eine Schöpfkelle und richtig schmerzhaft."
    Mireille weiß, dass sie sich strafbar macht: Hilfe für Ausländer ohne gültige Papiere kann mit fünf Jahren Haft und 30.000 Euro Geldstrafe geahndet werden. Bisher wurde zwar noch niemand verurteilt - das würde wohl auch Proteste geben. Aber die Schikanen nehmen zu: neulich musste eine ältere Frau neun Stunden in Polizeigewahrsam verbringen, nur weil sie die Handys von Flüchtlingen aufgeladen hatte. Das Gesetz bringt Mireille nicht von ihrer Überzeugung ab, was gut und richtig ist. Wenn es denn sein müsse, sagt sie, würde sie auch eine Gefängnisstrafe absitzen.

    Programmtipp

    Mehr über die Situation der Flüchtlinge in Calais erfahren Sie in der Sendung "Gesichter Europas" am 4.4.2009, 11:05 Uhr:

    Die Unsichtbaren und der Tunnel
    Flüchtlingselend in Calais
    Reportagen von Bettina Kaps.