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Flüchtlingssituation
"Die Herausforderung tut dem Land gut"

Der Schriftsteller Ilija Trojanow hofft, dass die Flüchtlingskrise die Menschen dazu bringt, sich mit den Folgen der Globalisierung auseinanderzusetzen: Abschottung sei in der Welt, "wie wir sie inzwischen aufgrund der neoliberalen Explosion kreiert haben", keine Option mehr, sagte er im DLF. Er glaubt, dass die Form des Nationalstaats langfristig überwunden werden wird.

Ilija Trojanow im Gespräch mit Maja Ellmenreich | 07.01.2016
    Ein Porträt von Ilija Trojanow
    Ilija Trojanow auf der Buchmesse in Leipzig. (picture-allianc / dpa / Jens Kalaene)
    Maja Ellmenreich: Gartenzwerg, Zuverlässigkeit, Johann Sebastian Bach, Bratwurst oder Fremdenfeindlichkeit. Was ist deutsch? Was war schon immer deutsch und wie wird sich die Definition des Deutschen womöglich ändern, ändern müssen in Zukunft? Diesen Fragen gehen wir zu Beginn des neuen Jahres nach. Jeden Tag in "Kultur heute", jeden Tag mit einem anderen Gesprächspartner. Heute mit dem Publizisten, mit dem Schriftsteller Ilija Trojanow, geboren im bulgarischen Sofia. Noch als Kind ist er mit seinen Eltern über Jugoslawien und Italien nach Deutschland geflohen, verbrachte seine Jugend in Afrika und Deutschland und ist seitdem, ich glaube, so kann man es sagen, beobachtend und schreibend auf der ganzen Welt unterwegs. Seine großen Romane heißen "Der Weltensammler" und "Macht und Widerstand" und im Mai kommt der nächste Trojanow auf den Buchmarkt: "Meine Olympiade". Darin schildert er einen Eigenversuch. Vier Jahre lang hat er nämlich alle Disziplinen der Olympischen Sommerspiele trainiert mit dem Ziel, halb so gut abzuschneiden wie der jeweilige Goldmedaillen-Gewinner von London 2012.
    Der Anspruch auf Vollständigkeit gepaart mit Disziplin und einer eindeutigen Zielsetzung - meine Frage an Ilija Trojanow - das ist doch typisch deutsch, oder?
    Ilija Trojanow: Na ja, typisch deutsch ist erst mal die Frage, was ist typisch deutsch. Um überhaupt auf die Frage zu kommen, müsste man ja vermuten, dass eine gewisse Unsicherheit vorherrscht, ob es überhaupt so etwas gibt wie typisch deutsch. Und ich glaube, dass es dann typisch deutsch ist, dass man sehr systematisch vorgeht und beschließt, jeden Tag mit einem anderen Gesprächspartner den Sachen dann schon auf den Grund zu gehen, also nicht en passant eine kleine Plauderstunde organisieren, sondern wenn möglich alles abgrasen, um eine Frage, die vielleicht gar nicht gestellt werden muss, dann scheinbar allumfassend zu beantworten. Ich glaube, dass Eigenschaften uns ja nie weiterführen, weil Eigenschaften sind ja Konditionierungen und diese Konditionierungen verändern sich ja je nach Epoche, je nach Notwendigkeit. Eigentlich müsste man sagen, typisch deutsch ist das, was typisch englisch, französisch, spanisch, italienisch, russisch und so weiter ist, nämlich wenn man eine Kulturnation von Rang ist, die Offenheit, sich auszutauschen mit der Welt und durch diesen Austausch immer wieder Großartiges zustande zu bringen. Und das wiederum gilt, glaube ich, wirklich für jede Kulturnation.
    Bewunderung für Deutschland in der Welt
    Ellmenreich: Aber stellt sich der Engländer nicht die Frage, was ist typisch englisch, der Russe stellt sich nicht die Frage, was ist typisch russisch, nur der Deutsche stellt sich die Frage, was ist typisch deutsch, und das ja offensichtlich auch sein Leben lang, laut Friedrich Nietzsche.
    Trojanow: Ja. Ich glaube schon, dass die anderen behaupten würden, sie wüssten genau, was das Typische ist. Aber ich glaube, es würde weniger prognostiziert werden, es wäre nicht behaftet mit so einem großen Fragezeichen, sondern es wäre eher begleitet von einem Ausrufezeichen.
    Ellmenreich: Sie kommen so viel herum und als wir Sie in der Sendung "Klassik, Pop etc." zu Gast hatten hier im Deutschlandfunk, da haben wir Sie als Weltreisenden vorgestellt. Ist man denn im Ausland sich sicherer, was deutsch ist? Gibt es da klarere Definitionen, gibt es da Klischees, gibt es da Assoziationen, die sofort genannt werden?
    Trojanow: Ja es gibt eine Sache, die einem immer überall auf der Welt auffällt, und das ist Bewunderung. Ich glaube, dass nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum heutigen Tag die deutsche Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung wirklich sehr auseinanderfallen. Das was ich an Deutschland sehr schätze, ist ja gerade dieses Introspektive, Selbstkritische, Nachdenkliche, sich immer wieder auch gewisse Fragen stellende, Fragen der Schuld, der Verantwortung. Was aber interessant ist, dass aus Sicht vieler, vieler anderer Menschen weltweit Deutschland geradezu ein leuchtendes Vorbild ist, und zwar aus ganz unterschiedlichen Gründen: Manche, weil sie die deutsche Demokratie oder den Aufbau einer Demokratie in diesem Land wertschätzen, andere natürlich, weil sie bestimmte deutsche Produkte toll finden, die Ausstrahlung gewisser deutschen Marken, nicht nur Waren, sondern auch kultureller Marken. Die mangelnde Arroganz, das ist interessanterweise etwas, was man immer wieder hört, dass die Deutschen im Umgang gerade in der sogenannten Dritten Welt, also Afrika, Asien, dass die Deutschen irgendwie nicht diese neokoloniale Arroganz an den Tag legen würden.
    "Sprache ist Ermächtigung schlechthin"
    Ellmenreich: Also Bewunderung für die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, mit der eigenen Verantwortung, mit der eigenen Schuld?
    Trojanow: Das ist ein Moment der Bewunderung. Ich glaube, dass die Deutschen in dem Maße, in dem sie nachdenklich werden, auch diese Nachdenklichkeit zu einem scharfen Messer dann verwandeln, das sich gegen sie selbst richtet, und dieses über sich selbst zu Gericht sitzen ist sozusagen die große Stärke und gleichzeitig auch die große Schwäche. Man kann nie die perfekte Balance finden. Jetzt zum Beispiel auch bei der Flüchtlingsdebatte gibt es ja unglaublich viele Leute, die sagen, dieses zur Schau gestellte Gutmenschentum, jetzt wollen die Deutschen auch in der Gastfreundschaft und in der Humanität übertreiben, so wie sie bei allem anderen übertreiben müssen...
    Ellmenreich: Weltmeister werden.
    Trojanow: Genau, Weltmeister werden. Aber was sind denn die Alternativen? Wollen wir jetzt, wie wir es schon mal hatten, Weltmeister des Schlechtmenschentums wieder sein?
    Ellmenreich: In Ihrem ersten Buch über Mythos und Alltag Ostafrikas, da haben Sie geschildert - ich zitiere mal wörtlich -, wie sich Ihr anfängliches Befremden in Interesse und Zuneigung für Ihre neue Heimat Kenia verwandelt habe. Was hat Ihnen bei dieser Verwandlung geholfen? Was hilft dabei, dass aus Befremden Interesse und Zuneigung wird?
    Trojanow: Offensichtlich hat man das ein bisschen, bekommt man das in die Wiege gelegt, eine gewisse Form der Neugier. Was natürlich immens hilft ist Sprache. Sprache ist ja Ermächtigung schlechthin. Jede Sprache, die man lernt, öffnet einem ja wirklich eine neue Welt, und zwar nicht im profanen Sinne, dass man verschiedene Landschaften durchstreifen kann, sondern tatsächlich auch Denkwelten, Mentalitätsräume. Wenn man mehrere Sprachen mehr oder weniger fließend, um nicht zu sagen perfekt beherrscht, dann heißt das aber auch, dass jede dieser Welten in der anderen kritisch gespiegelt wird. So, glaube ich, verfällt man nie in diese Hybris zu glauben, dass eine bestimmte Form der Wahrnehmung oder eine bestimmte Form des Lebens die richtige oder sogar die allein glücklich machende sein könnte.
    Probleme und Verantwortungen der Globalisierung vor Augen führen
    Ellmenreich: Ich leite mal ab oder ich vermute mal, dass Sie jedem Flüchtling, der in diesen Wochen und Monaten in Deutschland ankommt, ans Herz legen, Deutsch zu lernen, Deutschkurse zu besuchen. Wie sieht es aus mit dem Kennenlernen, mit der Kenntnis, mit der Lehre darüber, was in der deutschen Geschichte passiert ist? Muss ein Flüchtling, der seine eigene Geschichte im Gepäck mitbringt, muss der wissen, was in der deutschen Geschichte passiert ist, mit besonderem Hinblick auf den Nationalsozialismus?
    Trojanow: Ja das sind natürlich wirklich weltfremde Erwartungen, die teilweise jetzt formuliert werden, und zwar aus einem ganz einfachen Grund, weil die einheimische Bevölkerung diese Erwartungen ja auch nicht erfüllen kann. Das ist ja wie bei diesen Tests bei der Einbürgerung. Als das vor ein paar Jahren diskutiert wurde, haben wir ja festgestellt, dass die allermeisten Deutschen durchfallen würden. Wenn, dann muss es für alle gelten. Wenn man bestimmte Ansprüche formuliert, was Kenntnis politischer Strukturen angeht, was zum Beispiel die Verfassung angeht, weil wir sehr oft vom Verfassungspatriotismus reden - jetzt haben wir so oft von Verfassungspatriotismus geredet, dass wir offensichtlich vergessen haben, dass die Verfassung tatsächlich auch zu gelten hat, und in der Verfassung gibt es das Asylrecht. Das heißt, all diese Leute, die sagen, so kann man nicht Politik betreiben, verabschieden sich eigentlich von der Verfassung, und ich finde das geradezu skandalös, dass es nicht öfter formuliert wird.
    Ellmenreich: Sie haben die Fähigkeit zur Eigenwahrnehmung und zur Fremdwahrnehmung, was Deutschland angeht. Wie beobachten Sie diese Diskussion, die Sie gerade geschildert haben, zurzeit? Ist das ein Prozess, der Deutschland voranbringen wird, entwickeln wird? Was meinen Sie?
    Trojanow: Ich glaube, ja. Ich finde, die Herausforderungen, die sich jetzt mit dieser großen Anzahl von Flüchtlingen stellen, tun dem Land sehr, sehr gut. Was ich schon feststelle ist, dass die Leute gezwungen sind, sich mit bestimmten globalen Phänomenen auseinanderzusetzen, und es ist so, dass wir realisieren müssen, dass eine Abschottung, selbst wenn sie jetzt erwünscht ist, nicht mehr möglich ist. Das ist in der Welt, wie wir sie inzwischen auch aufgrund der neoliberalen Explosion kreiert haben, einfach keine Option. Und die Tatsache, dass die Flüchtlinge uns das jetzt direkt vor Augen führen, weil wir uns dem nicht verschließen können, ist, glaube ich, sehr hilfreich, dass die Bevölkerung nicht nur in kleinen intellektuellen Nischen, sondern wirklich das Gros der Bevölkerung sich vor Augen führt, was Globalisierung und was die Vernetzung der Welt dann auch für Probleme und Verantwortungen mit sich bringt.
    Ellmenreich: Wird sich die Frage, was ist deutsch, laut Friedrich Nietzsche dann eines Tages vielleicht doch erledigt haben?
    Trojanow: Das, glaube ich, ja. Ich glaube, dass wir mittel- oder langfristig die Form des Nationalstaates überwinden werden. Ich glaube nicht, dass es eine langfristige Zukunft hat. Und dann wird sich das tatsächlich irgendwann mal erübrigen, so wie es ja jetzt schon extrem schwierig ist, darauf eine fundierte Antwort zu geben, weil der deutsche Sprachraum ja zerteilt ist in Deutschland, Österreich, Schweiz. Und als jemand, der in Wien lebt, merke ich das ja immer wieder. Wir könnten sozusagen das ganze Gespräch, was wir jetzt geführt haben, noch mal führen und dann mit der Besonderheit, dass das Österreichische zwar irgendwie deutsch ist, aber doch nicht deutsch, und dann wird es richtig kompliziert.
    Ellmenreich: Noch komplizierter also. - Was ist deutsch? Antworten darauf gab heute der Schriftsteller Ilija Trojanow.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.