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Flüssiges Teleskop

Spiegel für astronomische Teleskope müssen exakt geschliffen sein, oft auf wenige Nanometer genau. Das ist teuer und ab einer gewissen Größe nicht mehr praktikabel. Diese Probleme kennen flüssige Teleskopspiegel nicht.

Von Karl Urban | 16.05.2012
    Eine dicke runde Glasscheibe liegt auf der Werkbank eines Amateurastronomen. Für gestochen scharfe Sterne am Himmel möchte er für sein Teleskop einen perfekten Spiegel - für den er nichts weiter braucht als eine Schleifschale, körniges Schleifmittel - und ganz viel Geduld.

    Was in der Hobbywerkstatt nach ein paar Tagen durchgestanden ist, braucht bei den größten Teleskopspiegeln der Welt schon einmal Jahre - und kostet etliche Millionen Euro. Schneller und günstiger wäre da ein Spiegel, den man gar nicht schleifen muss. Eine Idee aus dem 19. Jahrhundert: Der Spiegel besteht aus einem Film Quecksilber und wird beständig gedreht. Dabei erhält der Metallfilm wie von selbst die gewölbte Form eines Teleskopspiegels und kann Licht im Brennpunkt bündeln. Die ersten Teleskopbauer scheiterten allerdings an einem elementaren Problem, das jeder Astronom kennt, der einmal mit dem Fuß gegen sein Stativ getreten ist. Vibration.

    "Heute gibt es einige Technologien, die es einfach machen, solche Teleskope zu entwickeln. Das erste dieser Art wurde aber schon 1905 gebaut: Ein US-Physiker namens Robert Wood hat damals einen ziemlich wackeligen Plattenspieler genommen, der eine kleine Schale mit Quecksilber dreht. Und er hatte ein Okular, mit dem er vorbeiziehende Sterne beobachten konnte."

    Ohne aber den gewöhnlichen Teleskopen seiner Zeit Konkurrenz zu machen. Erst vor zwei Jahrzehnten und 90 Jahre nach Robert Wood entwickelte Paul Hickson einen der ersten modernen flüssigen Spiegel. Der Kanadier ist Direktor dieses Large Zenith Telescope an der Universität von British Columbia. Hier verhindern heute Sensoren und Regelkreise jede noch so kleine Vibration im Quecksilber. Doch bei dem sechs Meter großen Spiegel gab es neue Probleme: Die Forscher fanden heraus, dass rotierendes Quecksilber ungewollt Reibung verursachte, mit der Luftschicht direkt darüber. Dabei entstanden winzige Verwirbelungen im flüssigen Metall und der Spiegel wurde unscharf. Solche Kinderkrankheiten konnte das Team mittlerweile lösen. Es spannte eine dünne Kunststofffolie aus Mylar über die Spiegelfläche. Von einer deutschen Spezialfirma entwickelt, ist die Folie völlig durchsichtig und rotiert zusammen mit der Quecksilberschicht. Dadurch ist das Metall von der Luftschicht darüber abgeschirmt und so glatt wie ein aufwendig geschliffener Glasspiegel. Ein letztes Problem ließ sich im Westen Kanadas aber nicht ausräumen: das Wetter. Jean Surdej von der Universität Liège in Belgien:

    "Dieses Teleskop ist in seinen Möglichkeiten begrenzt, weil es an einem schlechten Ort steht. In Vancouver ist es oft bewölkt und regnerisch. Aber: Paul Hickson hat dort einen Prototypen entwickelt, der funktioniert."

    Der kanadische Prototyp steht nun Pate für neue flüssige Spiegel. Einer davon entsteht derzeit hoch im Himalajagebirge, entwickelt von Forschern aus Indien, Kanada und Belgien. Jean Surdej gehört zu den treibenden Kräften dieses Vorhabens. Am Anfang war er noch skeptisch: Teleskopspiegel aus Glas, mit denen er sonst gearbeitet hatte, können nämlich in alle Richtungen geschwenkt werden. Ein flüssiger Spiegel würde dabei aber sofort auslaufen und vor allem seine perfekte Form verlieren. Er kann deshalb nur in den Himmel direkt über ihm blicken.
    "Ich hielt das Ganze erst für völlig nutzlos. Aber dann haben wir gemerkt, dass wir zumindest den besten Teil des Himmels beobachten würden. Gerade der Bereich direkt über dem Teleskop ist ja für Licht am besten durchlässig - und hier können wir auch die besten Bilder machen."

    Längst sind deshalb weitere flüssige Teleskopspiegel in Planung, einer davon in der Atacamawüste in Chile: Hier soll er die Arbeit von Europas größten Teleskopen mit ihren beweglichen und teuren Glasspiegeln ergänzen.

    Ihr geringer Preis könnte der Technik zu weiteren Höhenflügen verhelfen, im Weltraum, fernab der Erdatmosphäre. Denn gewöhnliche Weltraumteleskope besitzen immer größere Spiegel und werden dabei teurer und teurer. Fast neun Milliarden US-Dollar kostet allein das geplante James-Webb-Teleskop. Sein 6,50-Meter-Spiegel ist fast dreimal so groß wie beim Vorgänger Hubble und könnte damit die ersten Galaxien erspähen. 20 bis 100 Meter wären laut einer NASA-Studie mit einem Flüssigspiegel realisierbar - auf der Mondoberfläche. So ein Spiegel wäre für seine Größe vergleichsweise günstig - und mit ihm ließen sich theoretisch die allerersten Sterne des Universums ablichten.