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Flugzeuge, die in Gebäude einschlugen

Nach seinem Bestseller "Alles ist erleuchtet" hat Jonathan Safran Foer einen Roman über den 11. September geschrieben. In "Extrem laut und unglaublich nah" mischt Foer von allem ein bisschen. Viel Symbolhaftigkeit, noch mehr Emotion und ein klein wenig Realität. Ohne den 11. September würde Foer seine Geschichte nicht oder anders erzählen. Doch wirklich interessiert ihn alles, was danach kam.

Von Sacha Verna | 18.09.2005
    Flugzeuge, die in Gebäude einschlugen.
    Stürzende Körper.
    Menschen, die hoch oben in den Fenstern mit Hemden winkten.
    Flugzeuge, die in Gebäude einschlugen.
    Stürzende Körper.
    Flugzeuge, die in Gebäude einschlugen.
    Menschen, bedeckt von grauem Staub.
    Stürzende Körper.
    Einstürzende Gebäude.
    Flugzeuge, die in Gebäude einschlugen.
    Flugzeuge, die in Gebäude einschlugen.

    Sie brauchen keinen Kommentar, diese Bilder, die am 11. September 2001 und in den darauf folgenden Tagen in Endlosschleifen über sämtliche Bildschirme der Welt flimmerten. Jonathan Safran Foer kommentiert die Bilder auch nicht in seinem neuen Roman "Extrem laut und unglaublich nah". Und genauso wenig versucht er, die Ereignisse jenes Tages zu erklären. Die Figur, die die Flugzeuge in die Gebäude einschlagen und die Menschenkörper stürzen sieht, hat den Ton ihres Fernsehers ausgeschaltet.

    "Extrem laut und unglaublich nah" ist vielmehr die Gegenwart, die Foers Protagonisten bewältigen müssen, und die ist im Jahr 2004, in dem der Roman spielt, noch immer bedrohlich genug. Der amerikanische Autor Don DeLillo hat einmal gesagt, er misstraue Literatur zutiefst, die unmittelbar auf geschichtliche Ereignisse reagiere.

    Das Epos "Libra", in dem DeLillo sich in den Kopf des Kennedy-Attentäters Lee Harvey Oswald hineinphantasierte, erschien zwanzig Jahre nach dem Mord am US-Präsidenten. Im Fall des 11. September haben sich Schriftsteller dies- und jenseits des Atlantiks freilich nicht so lange Zeit gelassen. Als sei eine Hemmschwelle überschritten, bilden die Terroranschläge und ihre Folgen plötzlich Thema und/oder Hintergrund einer ganzen Reihe neuer Erzählwerke von vornehmlich angelsächsischen Autoren. Um nur einige Beispiele zu nennen: Ian McEwan liefert in seinem erfolgreichen Roman "Saturday" das Psychogramm einer Gesellschaft, die sich nur mit Mühe an den Gedanken gewöhnt, dass Terrorismus, gleich welcher Motivation, keine Landesgrenzen und keine Privatsphäre kennt. Der Engländer Chris Cleave ist zu fragwürdiger Berühmtheit gelangt, weil sein Roman "Incendiary", der mit "Lieber Osama bin Laden" beginnt und in dem ein Fussballstadium samt Insassen in die Luft gejagt wird, ausgerechnet am Tag der Attentate vom 7. Juli in London erschien. Michael Cunningham, bekannt als Autor des internationalen Bestsellers "Die Stunden", veröffentlicht demnächst den dreiteiligen Roman "Specimen Days", in dem ein New Yorker Junge zum Selbstmordattentäter wird. In Patrick McGraths "Ghost Town" fühlt sich eine Psychiaterin allzu sehr in einen Patienten ein, den der 11. September gänzlich aus der Bahn geworfen hat. Und schliesslich soll im Januar ein Buch von Jay McInerney erscheinen, dessen Umschlag staub- und aschebedeckte Gegenstände sowie das brennende World Trade Center selbst zieren. Der Protagonist dieses Romans entgeht den Anschlägen knapp.

    Was nun Jonathan Safran Foers "Extrem laut und unglaublich nah" betrifft, so lässt sich dieses Werk durchaus als weiteren Beleg für die zumindest literarische Entkrampfung im Zusammenhang mit dem 11. September lesen. Der kollektive Schock, die individuellen Dramen, die Aneignung durch die Politik - all dies wurde und wird zu genüge diskutiert und analysiert. Doch was bedeutet es, dass der Terror jetzt auch Eingang gefunden hat in die westliche Fiktion? Was ist davon zu erwarten? Fungiert der 11. September in der entstehenden Literatur als Symbol, als Realität oder als simpler Emotionsauslöser? Bildet der 11. September den alleinigen Fokus der Romane oder bemühen sich die Autoren um umfassendere Darstellungen?

    Jonathan Safran Foer mischt in seinen Roman von allem ein bisschen. Viel Symbolhaftigkeit, noch mehr Emotion und ein klein wenig Realität. Ohne den 11. September würde Foer seine Geschichte nicht oder anders erzählen. Doch wirklich interessiert ihn alles, was danach kam.

    Wie wäre es mit einem Teekessel? Wie wäre es, wenn die Tülle beim Austreten des Wasserdampfes wie ein Mund auf und zu klappte und hübsche Melodien pfiffe, Shakespeare aufsagte oder einfach mit mir ablachte? Ich könnte auch einen Teekessel erfinden, der mir zum Einschlafen mit Dads Stimme etwas vorliest, vielleicht auch einen ganzen Haufen Kessel, die im Chor den Refrain von "Yellow Submarine" singen, einen Song der Beatles, die ich wahnsinnig gern mag, denn die Entomologie ist eine meiner raisons d'être, und das ist eine französische Redewendung, die ich gelernt habe.

    Mit diesen Worten begrüßt Oskar Schell, der Erzähler von "Extrem laut und unglaublich nah" seine Leser. Oskar ist neun Jahre alt, lebt in New York und hat am 11. September seinen Vater verloren. Sein Vater hatte eine Verabredungen in einem der Türme des World Trade Centers und kam nicht mehr nach Hause. Niemand und nichts hat Oskar bisher seinen abgöttisch geliebten Vater ersetzen können. Selbst seine Großmutter nicht, die im Haus gegenüber wohnt und ihm per Funk Botschaften wie die folgende zukommen lässt:

    Ich kann nur hoffen, dass du niemals jemanden mehr liebst, als ich dich liebe. Over.

    Selbst seine Grossmutter also nimmt auf Oskars Liste der Meistgeliebten in seinem Leben Platz zwei hinter seinem Vater ein. Seine Mutter, die glücklich zu machen für Oskar eine weitere "raisons d'être" darstellt, steht auf Platz drei. Darauf folgen Buckminster, sein Kater und Stan, der Portier.

    Oskars Alltag dreht sich seit dem Tod seines Vaters in erster Linie darum, die Menschen, die er liebt, zu beschützen. Hauptsächlich im Geiste, denn bislang konnte er keine seiner zahllosen schutzdienlichen Pläne realisieren. So ist zum Beispiel das Vogelfutterhemd, das Leute vor Stürzen in die Tiefe bewahren soll, noch immer Phantasie.

    Oskars Beschützer-Obsession wir etwas in den Hintergrund gedrängt, als der Junge im Schrank seines Vaters einen mit "Black" beschrifteten Umschlag und einen Schlüssel darin findet. Da er annimmt, bei dem Schlüssel handle es sich um einen geheimen Hinweis, macht er sich auf die Suche nach allen Personen mit dem Namen Black in New York und nach dem Schloss, zu dem der Schlüssel passt.

    Die Metaphorik dieser Suche ist offensichtlich, vielleicht zu offensichtlich: Das Schloss als Erklärung für den sinnlosen Tod des Vaters. Der Schlüssel als Schlüssel zum Geheimnis von Leben und Tod. Es überrascht kaum, dass Oskar das passende Schloss am Ende zwar findet, aber das Rätsel der menschlichen Existenz nicht lösen kann. Schlauer als zuvor ist er natürlich trotzdem. Schließlich wissen wir alle, dass die Suche das eigentlich Ziel ist.

    Die Sinnbildlichkeit des Plots mag plump wirken, doch entpuppen sich manche Details als durchaus amüsant. So entdeckt Oksar, dass ein Mr. Black direkt über ihm wohnt. Abe Black ist ein ehemaliger Kriegsreporter und hat eine Karte für jeden Menschen angelegt, der ihm biografisch wertvoll erscheint:

    Er zog Schubladen auf und holte eine Karte nach der anderen heraus.
    "Henry Kissinger: Krieg!"
    "Ornett Coleman: Musik!"
    "Che Guevara: Krieg!"
    "Jeff Bezos: Geld!"
    "Philip Guston: Kunst!"
    "Mahatma Gandhi: Krieg!
    "Er war doch Pazifist", sagte ich.
    "Ganz genau: Krieg!"
    "Arthur Ashe: Tennis!"
    "Tom Cruise: Geld!"
    "Elie Wiesel: Krieg!"
    "Arnold Schwarzenegger: Krieg!"
    "Martha Stewart: Geld!"
    "Rem Kolhaas: Architektur!"
    "Ariel Sharon: Krieg!"
    "Mick Jagger: Geld!"
    "Yasir Arafat: Krieg!"
    "Susan Sontag: Denken!"
    "Wolfgang Puck: Geld!"
    "Papst Jonhannes Paul II: Krieg!"

    : Auch hier könnte man bemängeln, dass Foer unnötig heftig mit dem Zaunpfahl winkt, indem er die Attribute Krieg und Geld so verdächtig häufig auftreten lässt. Der Einfall ist trotzdem originell. Genauso wie wie die Dame, die auf der Aussichtsplattform des Empire State Building wohnt.

    Ruth Blacks verstorbener Mann war Vertreter gewesen und wollte auf seinen Verkaufstouren einen ausgemusterten Militärscheinwerfer auf seine Frau dort oben richtigen, damit sie sehen konnte, wo er sich gerade befand. Mrs. Black hat zwar keine Ahnung, in welches Schloss Oskars Schlüssel passen könnte, doch weiß sie alles, was es über das Empire State Building zu wissen gibt. Dies wiederum bedeutet, dass der Leser über zehn Seiten hinweg über jede technische und sonstige Einzelheit des Gebäudes aufgeklärt wird.

    Jonathan Safran Foer ist wie sein junger Held ein großer Freund von Statistiken, Trivia und Lexikoneinträgen. Und nicht nur davon. "Extrem laut und unglaublich nah" hat neben mehr oder weniger unnötigen Informationen auch visuell eine Menge zu bieten: Leere Seiten, Seiten, auf denen nur ein Wort steht und Seiten, auf denen so viele Worte stehen, dass man nichts mehr lesen kann. Das Buch enthält scharfe und unscharfe Fotos vom Nachthimmel, von Fenstern, Schildkröten und Astronauten, von Händen, Hinterköpfen und Schwingtüren. Wäre der Begriff nicht längst zur Worthülse geworden, könnte man sagen "typisch postmodern". Typisch postmodern wären in diesem Fall auch Foers zumeist comicartig überzeichnete Charaktere, die absurden Situationen, in die sie geraten, und die zahlreichen popkulturellen Verweise. Derlei Qualifikationen führen freilich nicht besonders weit.

    Durchaus aufschlussreich sind jedoch die Reaktionen, die besonders ein visueller Beitrag zu diesem Buch beim amerikanischen Publikum ausgelöst hat. Der Roman schliesst mit einer Bilderfolge, die den Sturz eines Mannes von einem der Türme des World Trade Centers im Rückwärtslauf zeigt. Statt hinunterzufallen fliegt der Mann hinauf. Die überwiegende Mehrheit der Rezensenten empfand diesen Gag als Zeichen sehr, sehr schlechten Geschmacks.

    Kein Zweifel, die Hinterbliebenen der Opfer vom 11. September werden über einen solchen Scherz nicht lachen. Auch wer bei den Anschlägen niemanden verloren hat, mag sich von den Bildern eher unangenehm berührt fühlen. Doch den ganzen Roman deshalb für misslungen zu erklären, wäre verfehlt. Die wusste amerikanische Kritik noch anderes zu bemängeln. Die Grundidee des Romans sei abwegig und Oskars Erlebnisse unglaubwürdig. Ausserdem sei Oskar selber viel zu greis und weise für sein Alter.

    Das stimm ja auch alles. Auf der Aussichtsplattform des Empire State Buildings wohnt niemand, und hätte da jemals jemand gewohnt, wäre dieser jemand längst von den Beamten des "Homeland Security"-Büros entfernt worden. Auch findet man nicht an jeder Grundschule Neunjährige, die Vorträge über den Atombombenabwurf über Hiroshima halten und den Central Park mit Metalldetektoren nach Gabeln absuchen. Oder die bereits als Sechsjährige Dialoge mit ihren Vätern führen wie den folgenden, an den sich Oskar zurück erinnert:

    (Dad) sagte: "Du fragst mich, warum es die Schwerkraft gibt?"
    "Ja, aus welchem Grund?" "Wer hat behauptet, dass es einen Grund dafür geben muss?" "Niemand. Eigentlich." "Meine Frage war nur rhetorisch gemeint." "Und was heißt das?" "Das heisst, dass ich keine Antwort erwartet habe, sondern nur etwas betonen wollte." "Was betonen?" "Dass es keinen Grund geben muss." "Aber wenn es keinen Grund geben muss, warum gibt es das Universum dann überhaupt?" "Wegen günstiger Entstehungsbedingungen."
    "Und warum bin ich dann dein Sohn?" "Weil Mom und ich miteinander geschlafen haben und weil eine meiner Spermien eines ihrer Eier befruchtet hat." "Entschuldigung, aber mir wird übel." "Tu nicht so kindisch." "Naja, ich kapiere einfach nicht, warum wir existieren. Nicht wie, sondern warum."
    Ich sah den Glühwürmchen seiner Gedanken zu, die in seinem Kopf auf ihrer Umlaufbahn kreisten. Er sagte: "Wir existieren, weil wir existieren." "Was zum?" "Mann kann sich alle möglichen Universen vorstellen, aber entstanden ist nun einmal dieses."

    Natürlich ist dieser Junge übertrieben frühreif. Natürlich besteht dieser Roman zu achtzig Prozent aus reiner Phantasie. Solchen Argumenten kann, ja muss man jedoch entgegenhalten, dass es zu den fundamentalen Freiheiten der Literatur zählt, keiner Realität ausser ihrer eigenen verpflichtet zu sein. Auch der authentischst wirkende Roman ist eine Übersetzung der Wirklichkeit und nicht die Wirklichkeit selbst. Foers Ausflüge ins Surreale sind deshalb völlig legitim.

    Tatsächlich lag das Problem, das die amerikanischen Rezensenten mit Foers Roman hatten, anderswo und blieb meistens unformuliert. Nämlich: Die Ereignisse des 11. September sind noch nicht reif für literarische Spielereien. Und genau das ist "Extrem laut und unglaublich nah": eine grosse literarisch Spielerei.

    Ein anderer Titel für diesen Roman könnte lauten: "Die unglaublichen Abenteuer des Oskar Schell, Erfinder, New Yorker, Veganer, Hobbyentomologe, Tamburinklopfer, Pazifist, frankophiler Romantiker und hoffnungsloser Fall für die Kinderpsychiatrie". Darf man eine solche Figur auf eine Tragödie wie den 11. September loslassen? Ist es möglich, dass ein solcher Roman der Gefahr entgeht, das Andenken an die Opfer der Anschläge zu entweihen? Die amerikanische Kritik meinte: Nein. Als zählte es nicht zu den Merkmalen einer aufgeklärten Gesellschaft, dass Literatur, mehr als alles andere, dürfen können muss.

    Um nun nicht missverstanden zu werden: Foers Spielerei ist ernst gemeint. So ernst wie "Alles ist erleuchtet", Foers sensationell erfolgreiches Debüt, in dem sich der Autor mit ähnlichen literarischen Mitteln wie in seinem neuen Roman an den Holocaust heranwagte. "Alles ist erleuchtet" wurde in den Himmel gelobt. Die Bitte-nicht-berühren-Frist für den 11. September scheint dagegen in mancher Hinsicht noch nicht vollständig abgelaufen zu sein.

    Dabei ist "Extrem laut und unglaublich nah" keinesfalls ein perfekter Roman. Eine von Jonathan Safran Foers bedauerlichen Schwächen ist seine Tendenz, alles in rosa Geschenkpapier zu verpacken. Zu viel ist bei ihm zu niedlich. Der verrückte kleine Oskar, mit seinen verrückten großen Ideen und seiner verwundeteten Seele ist zwar eine kuriose Erfindung, aber halt auch ach so süß. Wie unschuldig und rührend ist doch sein verzweifelter Versuch der Trauerbewältigung, wie herzerwärmend sind seine Begegnungen mit all den vielen wohlmeinenden Menschen. Dann die Oma, dieser Quell unerschöpflicher Liebe und Freundlichkeit, die in einer Schülervorstellung von Hamlet vor lauter Begeisterung für ihren Enkel auf der Bühne laut heraus lacht bei der Nachricht von Ophelias Tod. Die Oma, die wirkt, als sei sie einer Reklame für Sahnebonbons entsprungen. Oskars Mama ist so wunderschön und so furchtbar traurig, sein Kater so stumm und schmusig. Und Stan, der Portier, so duldsam und gütig, dass er einen Nachmittag lang alle Papierflugzeuge aufliest, die Oskar ohne Erfolg ins Fenster seiner Oma gegenüber zu schicken versucht. Kurz: Foer überschreitet die Grenze zu Kitsch und Sentimentalität selbst in den gelungensten Passagen mehrfach.

    Die Überzuckerung ist das eine. Sehr viel mehr schadet diesem Roman jedoch der Subplot: die Bombardierung von Dresden. Wer sich nun wundert, was denn bitte der Zweite Weltkrieg mit den Anschlägen vom 11. September zu tun hat, wundert sich zu recht. Dabei liesse sich vermutlich sogar argumentieren, der Terrorismus von heute sei irgendwie eine Folge des Krieges von damals.

    Aber darum geht es Jonathan Safran Foer nicht. Er konstruiert eine ungeheuer komplizierte Geschichte, die zusammengefasst ungefähr so lautet: Oskars Vater väterlicherseits erlebte als junger Deutscher die Bombardierung Dresdens. Er verlor dabei alles, inklusive die Liebe seines Lebens, die von ihm ein Kind erwartet, und seine Sprache. Statt zu sprechen kommuniziert er seither über ein Buch, in das er jeweils schreibt, was er nicht sagen kann. Wie der Zufall will, lernt er nach seiner Emigration nach New York in einer Konditorei die ebenfalls emigrierte Schwester seiner verlorenen Geliebten kennen. Die beiden heiraten, doch sucht der sprachlose Ehemann das Weite, als er erfährt, dass seine Frau, Oskars herzige Oma, schwanger ist. Das Resultat dieser Schwangerschaft ist Oskars Vater, an den der abwesende Papa vierzig Jahre lang Briefe schreibt, die er nicht abschickt. In diesen Briefen, die abwechselnd mit Oskars Abenteuern und Omas Memoiren, den Inhalt dieses 450-seitigen Romans bilden, versucht sich der Vater seinem Sohn zu erklären, indem er ihm von den Schrecken des Krieges erzählt und von seiner Angst und Unfähigkeit, noch einmal einen geliebten Menschen zu verlieren. So schildert er die Nacht, in der die Welt für ihn unterging:

    …ich sah furchtbare Dinge: Beine und Hälse, ich sah eine Frau, deren blondes Haar und grünes Kleid in Flammen standen, sie hielt im Laufen ein Baby im Arm, ich sah Menschen zudickflüssigen Pfützen zerschmelzen, an machen Stellen über einen Meter tief, ich hörte Tote wie brennende Holzscheite knacken, ein trockenes Lachen…

    …und eine der Toten ist seine schwangere Geliebte. Er habe so viel Angst, etwas Geliebtes zu verlieren, dass er sich der Liebe verweigere, schreibt er einmal. Das liest sich wie psycholgische Ratgeberliteratur. Man kann nur vermuten, was Foer mit diesem Handlungsfaden bezweckte. Wollte er die Parallelen aufzeigen zwischen zwei Tragödien - dem Zweiten Weltkrieg und dem 11. September - und zwei Arten, mit Verlust und Trauer umzugehen? Wollte er demonstrieren, dass der Krieg immer derselbe teuflische Krieg ist, unabhängig von Zeit und von der Form, die er annimmt? Sicher ist nur eines: Der Roman gewinnt nichts durch diese zusätzlichen Tränendrüsenaktivator. Oskars Geschichte wird dadurch keine weitere Dimension hinzugefügt.

    Zum Schluss die entscheidende Frage: Lohnt sich die Lektüre von "Extrem laut und unglaublich nah"? Ja. Sie lohnt sich für Leute, die die Stadt New York mögen und Oskars Wanderungen im Geist nachverfolgen können. Sie lohnt sich für Freunde witziger Enzyklopädien und irrwitziger Phantasien. Sie lohnt sich für Menschen mit Emotionsdefizit und für solche, die am Ende des Hollywood-Epos "Titanic" immer noch in Tränen ausbrechen. Alle übrigen lassen besser die Finger von diesem Roman.

    Jonathan Safran Foer: Extrem laut und unglaublich nah
    Roman. Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrends.
    Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2005.
    432 Seiten. 22.90 Euro