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Fluß der Worte

Bis vor kurzem kannte man den Namen des 1951 in Warschau geborenen Zbigniew Mentzel in seiner polnischen Heimat vor allem als Stimme des Feuilletons. Der Autor betrieb in seinen regelmäßigen Betrachtungen in der Krakauer katholischen Wochenzeitung "Tygodnik Powszechny" Gesellschaftskritik ohne pathetisches Engagement und mit ausgeprägtem Sinn für die tragikomischen Seiten der Wirklichkeit, wofür ihm Kritiker und Leser gleichermaßen Respekt zollten. Der außerordentliche Erfolg, der dem Autor mit seinem 2005 erschienenen Debütroman "Alle Sprachen dieser Welt" beschieden war, kam gleichwohl überraschend. Nun ist der Roman auf Deutsch erschienen.

Von Martin Sander | 18.07.2006
    Am Anfang des Romans steht ein Alptraum des dem Autor Mentzel eng verwandten Helden und Ich-Erzählers Zbigniew Hintz:

    "Nach einer Weile sah ich unzählige menschliche Zungen, die Toten und Lebenden herausgerissen wurden, Zungen, aus denen unsichtbare Hände ein Gebilde in Form einer Pyramide entstehen ließen; oder aber einen bis zum Himmel reichenden Scheiterhaufen.

    Ich sah mit Entsetzen, wie die Zungen immer mehr wurden: rotbraune, bläuliche, beinahe schwarze; und ich hatte das Gefühl, daß jemand über sie herrschte – denn sogar dann, wenn sie sich ineinander verhedderten, bildeten sie eine amorphe Masse, die nur Baumaterial war. Doch nicht einmal dann wurden die Zungen still, sie bewegten sich in fiebrigen Zuckungen, als ob die ganze verletzte Menschheit, als ob die ganze Welt - unsere Welt – um Hilfe schrie… fragte… fluchte… betete… um Gnade winselte?"

    Es ist eine Variation auf die Genesis, ein Spiel mit dem biblischen Motiv der babylonischen Sprachverwirrung. Doch bald, nämlich schon beim Aufwachen, wird daraus die individuelle Sprachlosigkeit des Intellektuellen, Schriftstellers und Sprachphilosophen Zbigniew Hintz.

    Man schreibt den 17. Januar 1999, den Jahrestag der "Befreiung" Warschaus durch die Rote Armee. Hintz, 46 Jahre alt, hat einen in vieler Hinsicht ungewöhnlichen Tag vor sich. Hintz soll seinem 82-jährigen Vater dabei behilflich sein, anlässlich von dessen letztem Arbeitstag als Apotheker des städtischen Krankenhauses eine Abschiedsfeier auszurichten. Das ist ein nicht unbedingt einfaches Unterfangen für den Sohn, der die Zeit gern daheim verstreichen lässt, um dabei seine Gedanken über die Lautmalerei der Bauarbeiter am Nachbarhaus, über die Chancen einer Sprache der Zukunft und über den Geheimcode der Börsennotierungen auszuspinnen. Die besondere Bedeutung des Tages, der streng genommen die ganze Handlung ausmacht, bringt es mit sich, dass Hintz immer wieder über sich und die Geschichte seiner Familie reflektiert.

    Zbigniew Mentzel:"Es gibt hier eine tiefere Verbindung zwischen dem Autor und seinem Helden. Sie besteht darin, dass es dem einen wie dem anderen an Identitätsgefühl mangelt. Weder der Autor und sein Held, noch auch die Eltern des Autors und die Eltern seines Helden können diesen ganz einfachen Satz mit dem Gefühl von Selbstgewissheit und Wahrheit aussprechen: "Ich bin? Na was denn?" Selbst wenn sie es tun, wenn der Vater des Helden zum Beispiel sagt, ich bin ein Apotheker, denn ich arbeite im Krankenhaus, dann leben sie doch in dem Gefühl, dass mit ihrer Biografie etwas nicht in Ordnung ist. Sie schämen sich für ihr Schicksal, und Scham ist ein sehr negatives Gefühl, das oft dazu führt, dass man in einer Fiktion lebt, dass man sich für jemand anderen hält, als man tatsächlich ist."

    Zbigniew Mentzel verwandelt seine bei aller Fiktion autobiographisch grundierte Familienchronik in eine tragikomische Geschichte, die von den über Generationen tradierten Bedrückungen des polnischen Bürgertums handelt. Die verstorbene Mutter hat ihre Jugendliebe im Weltkrieg verloren und diesen Verlust nicht damit verwunden, daß sie mit einem ebenso pedantischen wie ehrgeizlosen Apotheker eine Vernunftehe einging, der ihr in keiner Weise das Wasser reichen kann. Alle Hoffnungen auf einen intellektuellen Aufstieg setzt sie nunmehr in ihren Sohn und wird enttäuscht. Mit dreißig tritt Zbigniew Hintz immer noch nicht im Fernsehen auf. Die ersehnten Fremdsprachenkenntnisse, die ihm zu einer Karriere im Westen verhelfen könnten, bleiben allzu dürftig. Schlimmer noch: Damit der Sohn überhaupt das Elternhaus verlassen und eine eigene Wohnung beziehen kann, muß die Mutter eine ‚Traueruhr’ der Urgrossmutter verkaufen, ein Familienerbstück und nationales Andenken an den verlorenen polnischen Januaraufstand von 1863. Der Vater hat auf seine Art stets in strenger Selbstgenügsamkeit verharrt, selbst wenn er mit dem jugendlichen Sohn zum Angeln an die Weichsel fuhr.

    "Er stand in der vollen Sonne, seine Badehose bis zu den Hüftknochen hinuntergerollt, damit die Sonne auch dorthin kam; er stand da und redete laut zu irgendjemand unsichtbarem. Hinter Wacholderbüschen versteckt beobachtete ich jede seiner Bewegungen. Vater benahm sich so seltsam, dass ich es im ersten Moment mit der Angst zu tun bekam. Ich glaubte, er hätte einen Sonnenstich bekommen. Er stand mit dem Gesicht zu einer Reihe junger Fichten gewandt, die auf dem Kamm der Böschung in einigen gleichmäßigen Reihen wuchsen. Er sprach mit ihnen auf Deutsch und fuchtelte hektisch mit Armen und Beinen. Erst nach einer Weile begriff ich, dass mein Vater Exerzieren spielte. Die Fichten sollten die Soldaten sein, und er war der Offizier, der ihnen Befehle erteilte und die Kommandos dann selber ausführte. Warum sprach er dabei bloß kein Polnisch, sondern Deutsch? Ich hatte keine Ahnung."

    Zu den Schwierigkeiten mit einem sozialen Selbstverständnis im polnischen Kommunismus gesellt sich in diesem Roman eine nationale und damit zugleich sprachliche Identität mit Brüchen. Auch hier ist der autobiografische Bezug unverkennbar. Der Großvater des Autors Reinhard Mentzel kam als Deutscher nach Polen und wurde in Józef Piłsudskis Zwischenkriegsrepublik polnischer Offizier. Sein Sohn, der Vater des Autors, hatte dann vor dem Zweiten Weltkrieg eine polnische Kadettenanstalt besucht.

    Zbigniew Mentzel: "Mein Vater sollte eigentlich Berufsoffizier werden. Das war seine Berufung, das war das, was er wirklich liebte. Er hatte die Mentalität eines Militärs und im Jahre 1939, während des Septemberfeldzugs, geriet er früh in Kriegsgefangenschaft und verbrachte fünf Jahre im deutschen Gefangenenlager Woldenberg – so wie es im Roman steht. Das ist autobiografisch. Er kehrte nach Polen zurück. Das war seine freie Entscheidung, obwohl viele seiner Kollegen im Westen blieben. Er wollte also zurückkehren, es wurde ihm aber rasch klar, daß die polnische Armee vollkommen sowjetisiert war. Und damit wollte er nichts zu tun haben. Und dabei gab es noch etwas Paradoxes. Mein Vater, der in Woldenberg einmal von einem deutschen Wächter sehr stark auf den Kopf geschlagen worden war, besaß dafür ein ärztliches Zeugnis, und das erst erlaubte es ihm, problemlos die Uniform abzulegen und die Armee zu verlassen."

    "Alle Sprachen dieser Welt" ist ein spannender Gesellschaftsroman, der die Schicksale einer Warschauer Bürgerfamilie mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Traditionen aus der Perspektive eines hochbegabten Taugenichts Revue passieren lässt. Dabei erweist sich jener 17. Januar 1999, der das ganze historische Panorama dieses Buchs wie in einem Brennglas bündelt, am Ende auch noch als ein scheinbar erfolgreicher Tag. Rudolf Hintz, der so lange über Sprachen philosophiert und seine eigene Sprachfähigkeit verloren geglaubt hatte, findet plötzlich zu sich und gewinnt die Fähigkeit zu erzählen:

    "Der Fluß der Worte konnte endlich ungestört fließen. Ich sprach Polnisch, ich sprach in meiner Muttersprache und dennoch … mir war, als würde ich in allen Sprachen dieser Welt sprechen."

    Mentzel wäre aber wohl nicht Mentzel, hätte er diese Schlussszene nicht, ebenso wie den Beginn, in einen Traum verpackt. Diesmal ist es kein Alp-, sondern ein Wunschtraum. Die Lage des Helden bleibt also so unsicher und prekär wie die Rolle der polnischen Intellektuellen nach der Wende, ein Umstand, welcher der ebenso spannenden wie amüsanten Lektüre keinen Abbruch tut.