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Flussabwärts

Ich schreibe morgens, ziemlich früh, bevor ich zur Arbeit gehe. So zwei Stunden sind da reserviert. Und zumindest während dieses kreativen Prozesses, wo das Schreiben noch so richtig Spaß macht, die Überarbeitung kann man auch nach der Arbeit machen.

Christel Wester | 23.11.2002
    Der Schriftsteller Norbert Scheuer verdient seinen Lebensunterhalt als Systemprogrammierer bei der deutschen Telekom. Die Berufswelt des Technikers spielt jedoch in seinen Büchern keine Rolle. Der Autor lässt seine Leser eintauchen in eine Welt abseits der vernetzten Mediengesellschaft.

    Eigentümlicherweise wähle ich zuerst Handlungsorte aus, bevor ich anfange über die Charaktere nachzudenken, aber meistens ist das sozusagen ein Prozess, der sich gegenseitig bedingt. Aber so in meiner Nachschau sind es bestimmte Orte, an denen bestimmte Leute sich aufhalten.

    Norbert Scheuers Roman Flussabwärts beginnt auf einem Fußballplatz und an einem Fluss. Bei höchst ungemütlicher Witterung trainiert die Jugendmannschaft eines Provinzstädtchens für das nächste Spiel. Ein entscheidendes Spiel, es geht um den Aufstieg aus der Regionalliga in die Bezirksliga. Es dämmert bereits, doch das Flutlicht ist noch nicht an, und es schneit. Verfroren und eher träge laufen die Jungs über das Spielfeld. Claßen, der Trainer, brüllt. Schließlich landet der Ball im Fluss und treibt davon. Norbert Scheuer:

    Man kann natürlich sehr leicht in so etwas wie ein Fußballfeld das Spiel an sich hinein interpretieren und das Lebensspiel und den Versuch sozusagen, ein Spiel zu gewinnen, was die Protagonisten ja wollen. Sie wollen in dem in dem Roman einmal unbedingt aufsteigen mit der Mannschaft und sie wollen auch anders in ihrer Lebensperspektive aufsteigen. Sie wollen woanders hin, wollen besser leben. Und der Fluss ist sozusagen die gegenteilige Kraft, es geht sozusagen immer den Bach runter. Egal wie sehr man sich anstrengt.

    Es steckt viel Unglück in der Geschichte, die Norbert Scheuer erzählt. Seine Romanfiguren müssen einen harten Existenzkampf führen, nicht nur in materieller Hinsicht, sondern auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Dabei spielt das Fußballfeld allerdings nur eine marginale Rolle, ebenso der Fluss. Die Hauptfigur des Romans heißt Leo. Er ist der Ich-Erzähler, der jedoch zwischendurch von einer zweiten Erzählstimme unterbrochen wird. Leo ist etwa Mitte 40. Samstags fährt er gelegentlich mit dem Zug in seinen Heimatort, wo er aufgewachsen ist und wo seine Mutter in einem Altenheim lebt. Diese Fahrten werden zu Zeitreisen in die eigene Vergangenheit. Leo fühlt sich zurück versetzt in die 60er Jahre, wird wieder zu einem Jungen in der Provinz. Mit dem Fußballplatz zu Beginn des Romans entwirft der Schriftsteller Norbert Scheuer ein sehr prägnantes Bild, das vor allem eine Atmosphäre transportiert, die so mancher kennen dürfte, der in der Provinz aufgewachsen ist. Ein Sportplatz an einem nicht einmal mittelgroßen Fluss, Gleise einer stillgelegten Bahnstrecke am gegenüberliegenden Ufer, man hört weit entfernt Autogeräusche von der Schnellstraße, die Richtung Stadt führt. Und nicht nur beim Fußballspiel kennt jeder jeden.

    Es ist sozusagen das Aufeinandertreffen von einer gewissen Archaik und von Modernität. Das macht also das Schreiben darüber besonders reizvoll. Das sind sozusagen zwei verschiedene Motivstränge, die da zusammentreffen.

    Das fiktive Romangeschehen hat einen realen Ort, der sich auf der Landkarte genau lokalisieren lässt. Auf eine Verfremdung hat der Autor verzichtet. "Flussabwärts" spielt in Kall in der Eifel. In unmittelbarer Nähe, in Keldenich und in Sötenich, hat Norbert Scheuer bereits seinen ersten Roman "Der Steinesammler" angesiedelt, der vor drei Jahren erschien. Kall, Keldenich und Sötenich: Das ist eine Ansammlung von Dörfern, die im Zuge der Gemeindereform und des Eigenheimbooms in den 60er und 70er Jahren zu einem kleinstadtartigen Gebilde zusammengewachsen sind. Kall ist das Zentrum und liegt eine gute Stunde Zugfahrt von Köln entfernt. Wandergruppen, die am Wochenende in die Eifel reisen, fahren meist weiter und suchen das romantische Naturerlebnis bei den Vulkanen und Maaren in einer noch bäuerlich geprägten Landschaft. Dagegen setzt Norbert Scheuer eine Romanwelt, die alles andere als romantisch ist. Das Leben in der Kleinstadt ist zwar immer noch dörflich strukturiert, es gibt Bräuche und Festivitäten, an denen jeder teilnimmt, aber diese überschaubare Welt ist weder geschlossen, noch intakt. Die Arbeit ist hart. Wer nach Erfolg strebt, zieht fort. Wer bleibt, redet ständig vom Weggehen. Die soziale Enge schürt Aggressionen und Suff. Das ist das Milieu, in dem Norbert Scheuer seine Romane ansiedelt.

    Es ist ein Milieu, was ich gut kenne, und man schreibt in der Regel am besten, wenn man über das schreibt, was man kennt.

    Norbert Scheuer selbst lebt dort, wo seine Romane spielen. Autobiografisch sind sie jedoch nicht. Weder die Lebensgeschichte des "Steinesammlers", der in den Eifelsteinbrüchen nach Quarzen und Graniten sucht, noch die von Leo, der Hauptfigur des neuen Romans "Flussabwärts", weisen offenkundige Parallelen zum Leben des Autors auf.

    Aber alle Wahrnehmungen, die beschrieben werden, sind natürlich von mir. Also ich kann keine Eindrücke erfinden, ich denke mir, das kann überhaupt kein Schriftsteller.

    Norbert Scheuer ist ein sehr genauer Beobachter von seelischen Verletzungen, Gefühlen der Einsamkeit und des Verlorenseins, von kräftezehrender Arbeit und von mindestens ebenso sehr kräftezehrenden Beziehungen. Im Mittelpunkt steht die Geschichte von Leo. Seine Eltern betreiben eine Gastwirtschaft, die sich nicht rentiert. Nach der Pleite arbeitet die Mutter in einer Großküche und kellnert abends noch in der Wirtschaft, die ihr einmal gehört hat. Der Vater geht auf Montage. Leo verlässt die Schule, arbeitet im Zementwerk und probiert sich nicht besonders erfolgreich in der Liebe. Später wird er seinen Schulabschluss auf einem Abendgymnasium nachholen. Eine zweite Erzählstimme rückt zwischendurch andere Figuren ins Zentrum: Leos Mutter und Hilbert, der, als er von seiner Frau verlassen wird, völlig den Halt verliert. Und alle beobachten Lia, das ist Hilberts Exfrau, die in einem merkwürdigen rätselhaften Verhältnis zu Leo und seiner Mutter steht. Norbert Scheuer erzählt immer nur Ausschnitte aus dem Leben seiner Figuren, das macht seinen schmalen Roman sehr komplex.

    Das Konzept bei dieser Geschichte war im Grunde, ein Mosaik zu entwerfen, und dieses Mosaik sollte sich der Leser selbst zusammen bauen. Der Hintergrund dieser Erzählweise ist der, dass wenn man sich so sein eigenes Leben und seine eigenen Geschichten betrachtet, dann ist das Ganze ja immer geprägt von Unvollständigkeiten. Aber trotzdem kann man, wenn man darüber nachdenkt, über alles, was um einen herum ist, eine Geschichte entwerfen. Und genau diese, sagen wir mal, in diese Situation wollte ich den Leser bringen.

    Flussabwärts ist dennoch sehr streng komponiert. Der Roman entfaltet einen Sog, der einen das Buch nicht aus der Hand legen lässt, bis man die letzte Zeile gelesen hat. Und danach lässt er einen lange Zeit nicht los. Norbert Scheuer ist ein Erzähler, der eng bei seinen Figuren bleibt, der nicht psychologisiert oder allzu viel erklärt. Aber er schaut ihnen gut zu, wie sie dasitzen, sich vorbeugen oder im Nacken kratzen. Scheuer gelingt es, Stimmungen präzise einzufangen, ohne jemals sentimental zu werden. Der Ton, den er anschlägt, ist still und lakonisch. Dabei lässt er den Blick schweifen: über Rüben- und Maisfelder, den Bahndamm, die Böschung am Fluss, das große Möbelgeschäft und den Parkplatz vor dem Supermarkt. Auf diese Weise entwirft er ein sehr realistisches, aber zugleich auch poetisches Bild einer Provinzstadt, wie man sie nicht nur in der Eifel, sondern auch in der Lüneburger Heide oder im Schwarzwald finden kann.