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Flutgefahr aus dem Norden

Geologie. - Nordeuropa ist ein von Naturkatastrophen vergleichsweise wenig behelligter Teil der Welt, doch ganz risikolos ist es auch dort nicht. Deutsche und britische Forscher haben jetzt in einer Simulation untersucht, welcher Tsunami die nordeuropäischen Küsten treffen würde, wenn sich durch die Hebungen, die die durch den Klimawandel abschmelzenden Gletschermassen verursachen, vor Spitzbergen ein großer Erdrutsch löst.

Von Dagmar Röhrlich | 26.05.2011
    Vor 8200 Jahren, nach dem Ende der jüngsten Eiszeit, brach 120 Kilometer vor der Küste Norwegens ein riesiges Stück Kontinentalhang ab: Ein Gebiet – so groß wie Island – löste sich auf, schoss in die Tiefsee und schlitterte den halben Weg bis nach Grönland. Dieser Storegga-Erdrutsch löste einen ungeheuren Tsunami aus: Zwei, drei Stunden lang wälzte sich eine auf dem Meer 15 Meter hohe Wasserwand aufs Land, überrannte die Küsten Norwegens, Schottlands und Englands, staute sich in Fjorden und Buchten bis zu 35 Meter hoch auf. Wo das Land flach war, drang sie Hunderte von Kilometern tief ein. Schuld an dieser Katastrophe trägt nach derzeitigem Kenntnisstand ein Erdbeben:

    "Dadurch, dass sich Skandinavien nach der Auflösung der Gletscher sehr schnell angehoben hat, hat es natürlich große Spannungen in der Kruste gegeben, die dann die Erdbeben verursacht haben","

    erklärt Christian Berndt vom IFM-Geomar in Kiel. Dann fügt er hinzu, dass die Seismologen seit zehn Jahren eine besondere Klasse von Erdbeben messen, die mit dem Abschmelzen des grönländischen Eisschildes zusammenhängen - und die auch nach dem Ende der jüngsten Eiszeit aufgetreten sind:

    ""Man sieht halt, dass Erdbeben rund um Grönland und auch um die anderen vergletscherten Gebiete stattfinden, wie in Spitzbergen oder Nowaja Semlja und andere vergletscherte Länder."

    Im Visier der Forscher ist Spitzbergen. Auch dort schmelzen durch den Klimawandel die Gletscher, und das Land hebt sich. Vor allem gibt es dort auch einige weitere Faktoren, die beim Storegga-Erdrutsch ebenfalls eine Rolle gespielt haben: Gashydrate beispielsweise, Knollen aus gefrorenem Wasser und Methan, die in ein paar Hundert Metern Tiefe im Meeresboden bei hohen Drücken und niedrigen Temperaturen stabil sind. Berndt:

    "Dort gibt es sehr viele Gashydrate, die sich wahrscheinlich aufgrund der Klimaerwärmung jetzt verändern. Es gibt viele geologische Anzeichen dafür, dass sich da jetzt etwas auflöst, dass da jetzt Methan aus dem Meeresboden austritt. Und wenn das jetzt der Fall ist, kann das natürlich auch Rückwirkungen auf die Stabilität des Meeresbodens haben."

    Außerdem hatte dort, wo sich der Storegga-Erdrutsch löste, während der Eiszeiten einer der größten Eisströme Europas viel Schutt abgelagert. In diesem Schutt war sehr viel Wasser gefangen, das unter Druck stand und auch das machte die Sedimentpakete instabiler. Vor Spitzbergen gibt es solche Ablagerungen heute noch - und sie könnten theoretisch instabil werden, erklärt Christian Berndt. Wegen der Parallelen haben er und seine Kollegen von der Royal Holloway Universität in London und vom Geoforschungszentrum Potsdam modelliert, was passieren könnte, wenn sich ein Erdrutsch wie der von Storegga vor Spitzbergen lösen würde. Berndt:

    "Was wir da gemacht haben, ist, dass wir angenommen haben, dass es eine ähnliche Rutschung geben wird wie bei dem Storegga, wo wir wissen, wie viel Material abgerutscht ist, und was für einen Tsunami das ausgelöst hat, und das haben wir sozusagen als Blackbox benutzt und haben gesagt: In dem Gebiet vor Spitzbergen, da kann es maximal ein Drittel der Größe geben von dem Storegga-Slide, und wir haben das runterskaliert. Das heißt, wir haben die gleiche Beschleunigung, die gleiche maximale Geschwindigkeit und so etwas angenommen, und haben einfach modelliert, was passieren würde, wenn da jetzt eine ein Drittel kleinere Rutschung losgehen würde."

    Das Ergebnis: Der Tsunami im Nordatlantik wäre auf dem Meer zwischen einem und sechs Meter hoch - und nach rund zwölf Stunden hätte er Mitteleuropa erreicht:

    "Das bedeutet natürlich, dass der an den Küsten sehr, sehr unterschiedlich hoch sein würde. Das hängt da ja in erster Linie davon ab, wie die lokale Morphologie aussieht, eine Flussmündung wäre deutlich höher als an einem Kap zum Beispiel."

    Und so werden die Forscher die Gashydrate vor Spitzbergen im Blick behalten. Schon in diesem Sommer wird ein Forschungsschiff die Zone besuchen, in der sich die Hydrate offenbar auflösen, und sie seismisch genauer untersuchen. Und seine Kollegen vom Geoforschungszentrum Potsdam schlagen vor, ein Tsunamiwarnsystem einzurichten, das den Menschen eine Vorwarnzeit von einer bis vier Stunden geben würde. Denn damals zerstörte die Welle einige steinzeitliche Siedlungen an den Küsten - heute leben dort viele Millionen Menschen.